Aus einer geologischen Zufallsformation wurde Landschaft wurde Geschichte wurden Geschichten wurde Literatur. Die viel- fältigen Texte über Gibraltar haben sich zu einer wahren Konkurrenz des realen Felsens aufgetürmt. Dieses literarische Bergmassiv gilt es nun zu erobern, zu rekognoszieren, zu befestigen, zu verteidigen und begehbar zu machen. Entlang einer imaginären Calle Real oder Main Street findet man Zugang zu den sich immer filigraner verzweigenden auf- und absteigenden Callejones oder Lanes. Ab und an muß man hinauf zum „Sky Walk“, der gläsernen Aussichtsplattform auf dem obersten Grat des Felsens, von wo aus der Blick über das tiefblaue Meer zu seinen Füßen entlang der Straße von Gibraltar bis zu den im Dunst liegenden Gipfeln des kleinen Atlas-Gebirges schweift oder zur oftmals geplünderten, zerstörten und wiederaufgebauten Schwesterstadt Algeciras, mit der man sich die Bucht, aber nicht deren Namen teilt – „Bahía de Algeciras“ oder „Bay of Gibraltar“.
Die lange militärische Vergangenheit Gibraltars und seine noch immer aktuelle Funktion als britischer Militärstützpunkt haben uns zu dem martialisch anmutenden Untertitel angeregt. „Im Fadenkreuz“ bedeutet in erster Linie, das Ziel konzentriert anvisieren – in unserem Fall, die ganze Aufmerksamkeit ist auf die Literatur gerichtet!
Aus dem Inhalt:
Von 1001 arabischen Legende
„Und sie schlugen uns zu Brei“: Die wortreiche Reconquista Gibraltars
„Writing the Rock of Gibraltar“: Notizen zu einer literarischen Eroberung
„El Peñón oder Gibraltar español?: Die Vergeblichkeit einer Aneignung
„As Solid as The Rock“: Die literarische Konsolidierung
Europäische Spolienfunde: Grotesken und Groteskes
Yanitos/LLanitos: ein Volk, eine Sprache, eine Literatur?
Die intellektuelle Reconquista des Peñón
Gibraltar. Im Fadenkreuz der Literatur, von Ronald & Ursula Daus. 378 S., 54 Abb. + Karten, Literaturhinweise, Bibliographie, Orts- und Personenregister ISBN 978-3-925529-38-2 59 €.
Zu den Autoren: Ronald Daus (*1943), seit 1970 Universitätsprofessor für Romanistik an der Freien Universität Berlin und Metropolenforscher. Er unternahm zahlreiche Forschungsreisen durch alle Kontinente und lehrte als Gastprofessor u.a. in Rio de Janeiro, Mexiko-Stadt, Singapur, Manila, Guam und Tahiti
Ursula Daus (*1953), Diplom-Soziologin und Architekturkritikerin. Von 1980 bis 1990 Redakteurin von „DAIDALOS – Architektur, Kunst, Kultur“, Bertelsmann, Berlin. Seit 1997 Chefredakteurin von „KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin“, Berlin.
Folgende Neuerscheinungen von BABYLON Metropolis Studies URSULA OPITZ VERLAG aus den Jahren 2022, 2021 und 2020 werden beim Ehrengast Spanien vom 19. bis 22. Oktober 2022 präsentiert:
Die Skulptur des „Toro de Osborne“ gibt Orientierung im Leeren Spanien. Foto R & U Daus, 2021
Gibraltar. Im Fadenkreuz der Literatur, 378 S., 55 Abb., 59 € ISBN 978-3-925529-38-2 Oktober 2022
KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin „500 Jahre Weltumsegelung 1519-1522“, 130 S., 31 Abb. 20 € Juni 2021
Die „Casas-Palacio de Cargadores a Indias“ von El Puerto de Santa María im 21. Jahrhundert. Ein literarischer Befund, 220 S., 56 Abb., 39 €. ISBN 978-3-925529-37-5
Kritiken neuer Literatur des Ehrengastes Spanien bei der Frankfurter Buchmesse 2022 in unserem Magazin KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin
Unter dem Motto Creatividad desbordante, Sprühende Kreativität, präsentiert der Ehrengast Spanien die Werke spanischer Autorinnen und Autoren im Original und einen Teil davon in deutscher Übersetzung. Neben den bekannten Stimmen wie Irene Vallejo, Antonio Muñoz Molino oder Arturo Pérez-Reverte werden auch jüngere Autoren mit ihren in Spanien sehr erfolgreichen Texten dem deutschen Publikum näher gebracht. Einer von ihnen ist der 1979 in Madrid geborene Sergio del Molino, der in Saragossa lebt und arbeitet. Sein Buch „La España vacía. Viaje por un país que nunca fue“, Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab, erschien im Original 2016.
Beginnen wir gegen jede Konvention mit dem Untertitel des Essays von Sergio del Molino: „Reise in ein Land, das es nie gab“, denn dieser Satz beinhaltet das Besondere, das Einzigartige seines Werkes über das leere Spanien. Nach Ansicht des Autors hat sich in den Köpfen seiner spanischen Mitbürger ein Bild von einem leeren Spanien eingenistet, das sich aus den Erinnerungen von Millionen Landflüchtigen der 1950er und 1960er Jahre speist, die der Autor mit „Das große Traum“ überschreibt. Es setze sich zusammen aus Fiktionen – Romanen, Erzählungen, Reiseberichten, Gedichten, Filmen – und einer Nostalgie nach einer wie auch immer gearteten Rückkehr in dieses verlorene Paradies (die einige wenige Stadtflüchtige tatsächlich realisierten – offenbar oft zu ihrer eigenen Enttäuschung).
Die aktuellen Statistiken belegen ein extremes Verteilungsgefälle der spanischen Bevölkerung. Denn von den 46,5 Millionen Spaniern leben nur 7,3 Millionen, also 15,75 Prozent, auf einer Fläche von 53 Prozent des Nationalterritoriums. Hierbei handelt es sich vor allem um das als Meseta bezeichnete Innere des Lan- des. Wenn man davon Provinzhauptstädte wie Saragossa, Burgos, Zamara, Valladolid, Salamanca, Mérida herausrechnet, verbleiben nur 4,6 Millionen Einwohner, die sich in Kleinstädten, Dörfen und Weilern über dieses riesige Hochland zwischen Pyrenäen, Atlantik und Mittelmeer verteilen. Im Portugiesischen gibt es ein Sprichwort: „Portugal é Lisboa e o resto é paisagem“, Portugal, das ist Lissabon, und der Rest ist Landschaft. Auf Spanien könnte man es abgeändert anwenden: „España es Madrid y el resto es paisaje“. Molino erfindet einen noch extremeren Vergleich. „Madrid ist, wenn man so will, ein Schwarzes Loch, umgeben von gewaltiger Leere.“ (S. 43). Doch die Kompaßnadel des Wanderers Molino im großen iberischen Nichts richtet sich nicht nur auf soziopolitische Jahrbücher, historische Untersuchungen zur Landflucht oder politische Heilsversprechungen. Mit schwerem Gepäck aus Literatur, Reportagen und Filmen (Molino ist im Hauptberuf Journalist und gehört zu der für Spanien besonderen Spezies des „schriftstellernden Journalisten“) macht er sich auf den mühsamen Weg und „bereist“ die neuralgischen Plätze, die während der vergangenen 200 Jahre das Bild des leeren Spaniens bei den Spaniern geprägt haben. Und dabei betont er immer wieder, wie stark Außenstehende – Literaten und Künstler aus Madrid, Barcelona oder Valencia, aber auch aus Frankreich, England oder Deutschland – dieses Bild geformt haben. „Es ist nicht dasselbe, ob andere von einem erzählen oder man selbst, genauso wenig wie es dasselbe ist, ob andere über einen herschen oder man selbst.“ (S. 142) Wie ein erfahrener Regisseur von Grusel- oder Monsterfilmen konfrontiert Molino sein Lesepublikum im Hauptteil unter der Überschrift „Die Mythen des leeren Spanien“ mit einer Reihe „barbarischer Morde“, die in den vergangenen 30 Jahren gewinnträchtige Schlagzeilen in der großstädtischen Presse produzierten. In dem von Stadtflüchtigen bewohnten Pyrenäendorf Fago – „nicht Fargo wie in dem Film der Brüder Coen“ – erschießt 2007 ein Zugezogener den ebenfalls zugezogenen Bürgermeister, weil der ihn mit offiziellen Anordnungen drangsalierte. Schon Anfang der 1990er Jahre übten zwei Brüder Blutrache in dem nur einige Hundert Bewohner zählenden Dorf Puerto Hurraco an der Grenze zwischen der Extremadura und Andalusien. Neun Tote und 11 Schwerverletzte, darunter mehrere Kinder, war die Bilanz – ein weiterer Beleg für die nie ausgemerzte „Barbarei“ aus Ignoranz und Gewalttä- tigkeit im leeren Spanien. All dies nur mit der „Langeweile“ des Landlebens zu erklären, greift nach Ansicht Molinos zu kurz. Eher beruhe es auf dem Gefühl, nicht dazuzugehören zum großen Ganzen, dem, was Spanien nach seiner Demokratisierung in den 1980er Jahre propagiert hatte. Das Innere konnte trotz einer wie eine Monstranz von Politikern vor sich hergetragenen Aufbau- und An- schlußmission nicht wirklich erfolgreich „befriedet“ werden.
Der Boden des inneren Spaniens atme die seit dem Mittelalter auf ihm ausgefoch- tenen Schlachten, Kriege, Bestialitäten immer noch aus. Frieden kannte man nicht. Man baute „Schutzräume“, wie es etwa die vor der Inquisition in die später übel beleumundeten „Las Hurdes“ flüchtenden Juden taten. Die Bergregion liegt zwischen den Provinzen Salamanca und Badajoz an der portugiesischen Grenze. Und hier setzt das zweite Vorurteil über das Innere Spaniens an: „Stämme ohne Verbindung zur Außenwelt“. Befeuert wurde diese Ansicht durch einen in Spanien selbst lange verbotenen Dokumentarfilm aus den 1930er Jahren des Regisseurs Luis Buñuel. „Las Hurdes. Tierra sin pan“, Las Hurdes, Land ohne Brot, 1933, zeigte das elende Leben der Bergbewohner als eine Reise in die Hölle auf Erden (bei youtube in voller Länge mit spanischem Originalkommentar). Denn offensichtlich reichten Buñuel die erbärmlichen Lebensverhältnisse in den Dörfern nicht als Beleg seiner Sozialkritik. Einige der Bewohner dienten ihm als willfährige Schauspieler ihres eigenen Untergangs: ein kleines Mädchen, angeblich sterbenskrank, legte sich ermattet auf einem Stein nieder, „wo sie 2 Tage später starb“. Defacto lebte sie jedoch bis in ein hohes Alter. Ein angeblich kurz nach der Geburt verstorbenes Baby wurde auf den Schultern der Männer zum Friedhof im Tal gebracht. Auch dieses Kind hatte noch ein langes Leben vor sich. Nur ein Esel, der vor aller Augen von einem Schwarm Bienen zu Tode gestochen wurde, mußte tatsächlich sein Leben lassen wie auch eine Ziege, die an einem Steilhang zum Absturz gebracht wurde. Die Bilder prägten sich ein und prägen das Image von „Las Hurdes“ bis heute, was dem Lokaltourismus mächtig Auftrieb gibt und Madrider Jungreporter vor Ort nach Überlebenden suchen läßt. Relativ erfolgreich interviewen sie 93-Jährige mit perfekten Erinnerungen in geschliffenem Spanisch vorgetragen.
Mit der Begeisterung für eine romantisch-gefühlige Landschaftsbetrachtung, die Anfang des 19. Jahrhunderts von der deutschen Romantik aus auch nach Spanien überschwappte, suchten einige Literaten und Künstler aus den großen Städten Inspiration „auf Schusters Rappen“, was angesichts der Entfernungen im Inneren Spaniens und der klimatischen Extreme einen gewissen Mut erforderte. Mit nur kleinem Gepäck brachen sie ins Hinterland von Madrid auf, wo sie eine Art Missioniserungsdrang überfiel, und sie dazu provozierte, ihr Schönheitsempfinden und ihr Kunstwissen den ungebildeten, analphabetischen Dörflern nahezubringen. Im 20. Jahrhundert wurde dieses in situ-Lernen auch auf die Studenten der Architektur- und Kunstgeschichte ausgeweitet. Wie die großen spanischen Eroberer Amerikas und des Pazifiks „entdeckten“ sie die Landschaft und Kunstschätze im Inneren ihres eigenen Landes. Zu den bekanntesten Literaten dieser Unternehmungen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert gehörten Zorillas, Unamono, Vale-Inclan und andere mehr. Eine Aufwertung des leeren Spaniens war dies nur in den Augen einer Minderheit. Die Mehrheit behielt ihre Vorurteile – und schaute von Madrid aus Richtung Küste und von der Küste aus Richtung Meer.
Literarische Werke und Essays über das leere Innere wurden dennoch pausenlos produziert. Dem berühmtesten unter ihnen folgend, nämlich Cervantes „Don Quijote de la Mancha“, erstellten die Nachgeborenen teilweise auch seltsame Hirngespinste. Statt den Roman als Fiktion zu genießen, versuchte man ihn wie einen Reiseführer zu lesen, mit ausgewiesenen Streckenbeschreibungen, Ortsangaben und realen Persönlichkeiten, die angeblich den Lebensweg des Ritters kreuzten. Diese Sonderlichkeiten erzeugten zwei positive Ergebnisse. Viele kleine, unbeachtete Orte wurden plötzlich als „besuchenswert“ konnotiert und profitierten von dem daraus entstehenden Tourismus. Und die Spanier, die sich bisher für die „Kargheit ihrer Landschaft“ geschämt hatten, die von vielen ihrer Schriftsteller oft abschätzig als ein „braunes wogendes Meer“ bezeichnet wurde, versöhnten sich mit den Mängeln eines so großen Teils ihres Landes.
Den Mythos der Karlisten aus dem 19. Jahrhundert, die versuchten mit mehreren Revolutionen und Guerillakriegen aus dem traditionellen dörflichen Inneren Spaniens heraus, das Land zu verändern – konservative Kreise in Spanien hängen dieser Idee bis heute an – zerlegt Molino gekonnt. Junge Autoren aus Madrid, Barcelona, Valencia versuchten im neuen Jahrtausend mit ihren eigenen Mitteln, nämlich durch die Erkundung der „vergessenen Wörter und Sprache“, diesem vernachlässigten Landesteil erneut habhaft zu werden. So muß es also wieder die Literatur richten, denn den nationalen Aufbauprojekten (auch mithilfe von EU- Fonds) gelingt zwar die Verbesserung der Infrastruktur im leeren Spanien, aber nicht die Veränderung der Einstellung zu diesem leeren Inneren.
Spanien ist anders, heißt es, Spanien sei gewalttätig, barbarisch in seinem Inneren, aber nicht reformierbar. „So oder so ist die Sprache heute das Einzige, was uns bleibt, wenn wir jene Ursprünge rekon- struieren wollen“, tröstet der Autor sein spanisches Publikum. Für die deutschen Leserinnen und Leser hat er ein Vorwort beigefügt, das den besonderen Erfolg sei- nes Buches in Spanien erklären soll bis hin zur Schaffung einer neuen Partei „La España vaciada“, Das entleerte Spanien. Das leere Spanien wurde geboren aus ei- ner Fiktion und der realen Obsession als Folge dieser Fiktionalisierung. So schafft Imagination Heimat! Ronald & Ursula Daus
Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab, von Sergio del Molino, übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen. 304 S. 30 €. Wagenbach, Berlin 2022 http://www.wagenbach.de
(Siehe dazu auch: „Im leeren Zentrum Spaniens“, in: KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 41-42/2022)
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Nach der Aufklärung ist vor der Aufklärung. Die Romantik „erfand“ die Landschaft und die Identität durch Traditionalismen und Bodenständigkeit als Gegenbild zu Industrialisierung, rasanter Verstädterung und der rationalen Mo- derne. Spanien blieb davon zwar nicht unberührt, erfuhr jedoch besonders während der Franco-Diktatur ab 1937 eine eigenständige Modernisierung auch der ländlichen Ansiedlungen unter dem Mot- to einer „nationalen Utopie“. Besonders hervorzuheben sind hier die Pueblos de colonización, Kolonistendörfer, im „Leeren Spanien“ entlang der durch eine forcierte Bewässerungspolitik veränderten Flußlandschaften. Gewachsene Dörfer mußten den Staudammgroßprojekten weichen. Neue Pueblos wurden am Reißbrett entwickelt und als Modelle für eine neuartige Agrarproduktion implan- tiert. Ideologisch verorteten die mit der Neustrukturierung des ländlichen Sektors Beauftragten ihr Wirken als Fortsetzung der ihrer Ansicht nach gelungenen Kolo- nisierung und Implantierung spanischer Stadtkultur in der Neuen Welt. Interes- santerweise erhielten die Kolonisten- dörfer in den abgelegensten Gegenden der Extremadura Namen wie „Pizarro“ oder „Hernán Cortés“ in Erinnerung an das Große Zeitalter der Conquistadores. Man fühlte sich endlich wieder zu großen Taten herausgefordert und Viele machten mit: Architekten, Ingenieure, Stadtplaner, Künstler.
Auch die Surrealisten setzten sich mit dem ländlichen Raum auseinander. Alejandro de la Sota erfand das surrealistische Pueblo. Eine Mischung aus traditioneller andalusischer Dorfarchitektur und artifiziellen Landmarken wie einem Parkpavillion in Gaudí‘scher Manier mit Phantasiekuppel und Blechstandarte, 1953, ist der Ort Esquivel. Und nicht nur Maler wie Salvador Dalí, auch sein Zeitgenosse Alberto Sánchez Pérez ließ seiner Phantasie freien Lauf bei der Erfindung eines Dorfes wie „El Quijote: pueblo de la Mancha“, 1955.
Surrealistisches Dorfplatzidyll in Esquivel: Parkpavillion und Rathaus als ironisches Zitat zu Gaudís Park Güell in Barcelona. Entwurf: Alejandro de la Sota, 1953.
Der Verfasser, Jean-Francois Lejeune, hat mit „Rural Utopia and Water Urbanism“ ein profundes Lese- und Anschauungsbuch vorgelegt, daß nicht nur die historischen Hintergründe und den spanischen Sonderweg der Moderne-Bewegung des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Er weist mit der Materialfülle an Projekten und den damit befassten Architekten auch auf den Zusammenhang hin, der Spanien nach dem Ende der Franco-Diktatur zu einem Hotspot überbordener Architektur- und Design-Kreativität werden ließ, die bis heute anhält. Diese Kontinuität innerhalb der spanischen Architektur gründet seiner Ansicht nach teilweise auf den außerhalb Spaniens wenig beachteten oder nahezu unbekannten Pueblos de colonizaciónes, entworfen und gebaut in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ursula Daus
Rural Utopia and Water Urbanism. The Modern Village in Franco‘s Spain, von Jean-François Lejeune. 408 S., 400 Abb. 28 €. DOM publ., Berlin 2021 https://dom-publishers.com
(Siehe dazu auch „Städtebau als Kreuz-zug Francos. Wiederaufbau und Erneuerung unter der Diktatur in Spanien 1938-1959“, DOM publ., 2021, in: KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 41-42/2022)
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Er beginnt mit einer Belagerung und endet mit einer Belagerung – der Essay über „Europas letzte Festungen. Reise nach Ceuta und Melilla“ von Hans-Christian Riechers. 1415 wurde die auf der von Europa aus gesehenen „anderen Seite“ der Straße von Gibraltar gelegene arabisch-berberische Hafenstadt Sebta, heute Ceuta, von den Portugiesen nach kurzer Belagerung eingenommen. Sie stellte den Beginn des großen europäischen Abenteuers der „Entdeckungen“ und Inbesitznahme der restlichen Welt dar. Von hier aus suchten die Portugiesen entlang der Küsten des afrikanischen Kontinents den Weg zu den Reichtümern Asiens, vor allem seine Gewürze. Ceuta blieb nicht lange in portugiesischem Besitz, denn die von den Spaniern erfolgreich betriebene Reconquista, Rückeroberung, der iberischen Halbinsel von ihren
Die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla an der Straße von Gibraltar. Zeichnung von Diego Lara und Ricardo Sánchez. Aus: F. García de Cortázar, „Viaje al corazón de España“, 2018
islamischen Herrschern, machte auch vor den Hafenfestungen am Nordufer des afrikanischen Kontinents nicht halt und konnte bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem regelrechten spanischen Kolonialreich bis hin nach Mauretanien ausgeweitet werden. In den 1930er Jahren wurde Melilla für die Legionäre unter dem Kommando des späteren Diktators Francisco Franco ein wichtiger Brückenkopf beim Angriff auf das republikanische Spanien. Ceuta und Melilla sind somit die letzten Kronzeugen des spanischen Afrika-Kolonialismus.
Der Autor läßt die historischen Ereignisse der vergangenen 600 Jahre in kurzen Kapiteln an seinem Lesepublikum vorbeiziehen, mit Abstechern in die Antike und in die Literatur, auch die der Gelehrten und Dichter von Al-Andalus. Deren legendärer Nimbus als hervorragende Wissenschaftler und einfühlsame Beobachter strahlt bis heute weiter.
Die geostrategische Lage auf dem afrikanischen Kontinent in nur kurzer Entfernung zu Europa macht die beiden Städte im 21. Jahrhundert zu einem „Einfallstor“ für Flüchtlinge oder Zuwanderer, die der Autor „Migrierende“ nennt. Die Orte sind weder von ihrer Ausstattung noch von ihrer Geschichte her diesem Ansturm aus Schwarzafrika, dem Mittleren Osten, Asien oder auch nur aus dem Nachbarland Marokko gewachsen. Spanische und europäische Grenzschutzanlagen, Abkommen mit dem Königreich Marokko und abschreckende Verfahren sollen die Zehntausenden von Asylsuchenden fernhalten, was nur bedingt gelingt. Dabei haben sie es nicht – wie einst die Portugiesen und ihre europäischen Nacheiferer – auf die sich hinter den Festungsmauern vermuteten Reichtümer der Bewohner abgesehen, sondern auf den Eintritt in die „Wohlstandsunion“ (S. 132), die für sie der europäische Kontinent darstellt. Die letzten Seiten widmet der Autor seinem offensichtlich politischen Engagement: „Aus Sicht all jener, die eine kontrollierte Migration wollen, böten Ceuta und Melilla als Standorte für geregelte Einreise- und Asylverfahren eine Chance für Europa, seinen Ansprüchen gerecht zu werden.“ Für einen Besucher aus dem weitentfernten Deutschland scheint dies ein logischer Schritt zu sein. Die Bewoh- ner der beiden Städte kommen nur sehr fragmentiert und sporadisch in diesem europäisch-afrikanischen Vielklang aus Geschichte und Geschichten zu Wort. Auch fehlt in dieser kurzen Erkundung jeglicher Hinweis auf die literarischen Stimmen aus den „letzten Festungen Europas“, wie etwa diejenigen, die Guillermo Portillo in „La Luz y el mar de Ceuta“ versammelte. Hier finden sichGedichte über Ceuta, die zu den „Klassikern“ seiner Literatur gehören und vom „Instituto de Estudios Ceutiés“ 2006 publiziert wurden. red
Europas letzte Festungen. Reise nach Ceuta und Melilla, von Hans-Christian Riechers. 176 S., 13 €. Wagenbach, Berlin 2022 http://www.wagenbach.de
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Das Verdienst dieser vergleichenden Studie über die Oligarchien in vier unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas – Argentinien, Chile, Mexiko und Brasilien – liegt in ihrer Einzigartigkeit in der deutschsprachigen Lateinamerikanistik. Dabei konzentriert sich ihr Verfasser, der Soziologe Peter Waldmann, vor allem auf die „weichen“ Faktoren, die zum anhaltenden Erfolg von Oligarchenfamilien in Lateinamerika beitrugen. Interessant dabei ist festzustellen, daß die gewählten Erfolgsmuster in den einzelnen Ländern nur selten zu grenzüberschreitenden Verbindungen führten, um dadurch Synergien zu erzeugen. Man blieb dort, wo der Erfolg begann. Das Beispiel eines Zuwanderers aus Panama, dem es in Mexiko-Stadt gelang, sich in eine der Elite-Familien zu integrieren, blieb eine Ausnahme. Die Etablierung dieser Familiennetzwerke fällt in den spanischsprachigen Ländern der Studie in die Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts, in der die Unabhängigkeit ihre wirtschaftlichen und politischen Früchte für diesen Personenkreis zu tragen begann. Im Fall Brasilien stellte sich die Situation leicht verändert dar, da diese politischen Rahmenbedingungen erst ab den 1880er Jahren gegeben waren. Koloniale Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnisse wurden hier weit über ihren Zenit hinaus perpetuiert. Geschäfte und Handel blieben lange Zeit auf Portugal beschränkt, über das der Zugang zu Europa gesichert wurde. Damit fehlten auch die für eine aus Unternehmern und Industriellen zusammengesetzte dynamische Elite notwendigen Modernisierungsimpulse. Die Stärke der Oligarchien in den einzelnen Ländern lag in ihrem familiären Zusammenhalt und der „bedinungslosen Unterwerfung“ unter die Gebote des Patriarchen. Nur in wenigen Ausnahmen konnte auch eine Matriarchin diese Rolle einnehmen. Wesentliche Faktoren zum Erfolg waren „Erziehung“ einer meist zahlreichen Nachkommenschaft, „Heirat“, welche wiederum im Kreis der „Verwandtschaft“ zu einer verbesserten Stellung innerhalb der Oligarchie führen konnte, und der Umgang mit dem „Erbe“.
Ausführlich wird die Epoche der „Belle Époque“ behandelt, sozusagen der Hochzeit der lateinamerikanischen Oligarchen. In dieser Zeit beeinflußten sie nicht nur das Wirtschaftsleben ihrer Länder, sondern auch das soziale Leben, das sich ganz an den Normen des immer noch europäischen Vorbilds, hier vorallem Paris, ausrichtete. Europa galt als einziger Maßstab der feinen Lebensart. Oligarchen bauten sich Paläste im Stil der Zeit, spendeten für Kulturbauten wie Opernhäuser und Museen, spielten sich als Mäzene auf und zogen von Zeit zu Zeit selbst in den politischen Zirkeln ihre Strippen. In Argentinien konnte etwa nach der langen Zeit der „Herrschaft der Generäle“ der Oligarch Marcelo Torcuato de Alvear 1922 Präsident werden.Auch für Brasilien gibt es in dem Oligarchen des nordöstlichen Staates Paraíba, Epitacio L. Pessoa, eine Persönlichkeit aus diesem Gesellschaftsspektrum, der es 1918 bis zum Präsidenten des Nationalstaates schaffte, obwohl die informell agierende brasilianische Landoligarchie dem „fremden“ Staat gegenüber große Vorbehalte zeigte. Immerhin beherrschen diese Oligarchenfamilien den ehemaligen Zucker- und Sklavenstaat Paraíba bis heute mit eiserner Faust und bewaffneten Privatarmeen.
Cover der spanischen Ausgabe (2022) von „Oligarchie in Lateinamerika“ unter Verwendung einer Zeichnung des Autors.
Jedes Kapitel dieser Studie findet seinen Abschluß in „Zeitbilder und Zeitporträts“, Originaltexte mit der Einschätzung von Zeitzeugen oder landestypischen Nachbetrachtungen. Die „Zählebigkeit familialer Netzwerke“ sieht der Autor als eine „bleibende Hinterlassenschaft“ trotz einschränkender „Herrschaftseinbuße“. Ronald & Ursula Daus
Oligarchie in Lateinamerika. Dominante Familiennetzwerke im 19. und frühen 20. Jahrhundert, von Peter Waldmann. 228 S., 39,95 €. Campus, Frankfurt/Main 2021 http://www.campus.de
Als wir vor 25 Jahren KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin konzipierten, hatten wir uns das Ziel gesetzt, mit Autorinnen und Autoren rund um den Globus Themen zu diskutieren, die in dieser prinzipiellen Interdisziplinarität bis zu diesem Zeitpunkt nur selten im deutschsprachigen Raum zusammengetragen worden waren. Mit der digitalen Vernetzung der Kontinente ist unser Anliegen und der Daseinszweck unserer Zeitschrift eher noch wichtiger geworden. Denn wir setzen weiterhin auf die künstlerischen Stimmen aus anderen Kulturen und kombinieren sie zu überraschenden Gesamtkunstwerken.
Die Ankunft. Foto Beat Presser 1990. Aus dem Beitrag: Auf zu neuen Ufern oder Die Besiedelung Madagaskars.
Offenbar sind die Lebensverhältnisse im 21. Jahrhundert von „permanentem Chaos“ gekennzeichnet (siehe S. 126 im Heft). Es scheint also an der Zeit, sich „zu neuen Ufern“ aufzumachen. Wir lenken den Blick auf Geschichten und Orte, die unter dem Radar der aktuellen Aufgeregtheit liegen, wie etwa die in den letzten zwei Dekaden bemerkenswert produktiven Autorinnen und Autoren der ehemaligen spanischen Kolonie Guinea, dem heutigen diktatorisch von einem einzigen Clan beherrschten Äquatorialguinea. Auch die „Ursprungslegenden“ der Besiedelung Madagaskars durch mutige Seefahrer von weit entfernten Inseln zwischen Indien und Neuguinea, dem heutigen Indonesien, gehören dazu; sowie die entschlossenen Demonstranten – sei es in Peru oder Kuba – die sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und ihrer Zukunftsperspektiven durch autoritäre Regime verteidigen.
Aber auch wenn die „neuen Ufer“ für ihre Bewohner Bekanntes darstellen, können sie der Kreativität Vorschub leisten, wie es der von Junya Ishigami (*1974) im Jahr 2013 künstlich angelegte „Wassergarten“ am Fuß des Berges Nasu in der Präfektur Tochigi bei Tokio belegt – ein Kunstwerk aus Bäumen. Wasser, Moos und Steinen, „wie ihn die Natur selbst nie schaffen würde“, so die Ansicht des Künstlers.
Ronald & Ursula Daus * „Geschichten vom Meer“ in der Literatur Äquatorialguineas
Detlev von Graeve * Zeitreise an die Kamerun-Küste auf einem alten Bootsmodell http://detlev.von.graeve.org Beat Presser * Auf zu neuen Ufern oder Die Besiedelung von Madagaskar Peter Waldmann * Die Indigenen des Amazonasgebiets legen sich mit dem Peruanischen Staat an Peter B. Schumann * Vom Widerstand der Kunst und der Kunst des Widerstands in Kuba
Sie war ungeplant, wagemutig, kräftezehrend und Vielen den Tod bringend – die erste Weltumsegelung zwischen 1519 und 1522 unter dem Kommando des portugiesischen Generalkapitäns Fernão de Magalhães und dem spanischen Kapitän Juan Sebastián de Elcano. 500 Jahre später wird dieser „Meisterleistung des menschlichen Willens“ in vielfältigen Feiern rund um den Globus gedacht.
Exorbitante Profite erwarteten vor 500 Jahren denjenigen, der sich der „Gewürzinseln“ zwischen Indischem und Pazifischem Ozean bemächtigte. Muskatnüsse und Maze auf einer Plantage der Banda-Inseln. Foto R & U Daus, 2016
Mit einer prächtigen Ausstellung im „Archivo General de Indias“, kuratiert von Braulio Vázquez Campos, feierte Sevilla 2019 „El viaje mas largo. La primera vuelta al mundo“, Die längste Reise. Die erste Weltumrundung. Neben bekannten Dokumenten zur Rolle des Portugiesen Magalhães an dieser Entdeckungsfahrt rund um Südamerika und durch den Pazifik wurde ein weiterer Protagonist aus dem Dunkel der Geschichte erneut ans Licht der Öffentlichkeit gebracht, einer, der die Welt tatsächlich umrundet hatte: „der vergessene Baske“ Elcano. Er hatte das „Undenkbare“ gewagt, den Beweis zu erbringen, daß die Erde eine Kugel ist. Sein Originalbrief von 1522, den er nach seiner Rückkehr an Kaiser Karl V. schrieb, war erst 2015 in den Archiven „wiederentdeckt“ worden.
Wenig hingegen ist in Europa die Sichtweise der Bewohner Südostasiens auf die Ereignisse von vor 500 Jahren bekannt. Die Inseln Cebu und Mactan, die zu den Philippinen gehören, sollten nur eine Zwischenstation auf der Reise zu den „Gewürzinseln“ darstellen. Doch am 27. April 2021 feierte die gesamte philippinische Nation den 500. Todestag des portugiesischen Generalkapitäns in spanischen Diensten, Fernão de Magalhães. Dieser Tag gilt den Filipinos als ein erster Triumph über den europäischen Kolonialismus dank ihres Nationalhelden Lapulapu, der seine Krieger im Kampf gegen die spanischen Invasoren anführte.
Die einst so begehrten „Gewürzinseln“ Ternate und Tidore zählen heute zum Vielvölkerstaat Indonesien. Und auch dort besinnt man sich auf seine historische Rolle. Denn es waren die kostbaren Gewürze, die einst nur auf den Inseln der Molukken und der Banda-See zu finden waren, die das Wettrennen der europäischen Seemächte auslösten. Die Regierung Indonesiens hatte bereits 2020 beantragt, die „Spice Route“, die „Maritime Gewürzroute“, in das UNESCO-Weltkulturerbe aufzunehmen, „nicht um einen überwundenen Kolonialismus zu zelebrieren, sondern um das verlorene Wissen über die wichtige Rolle der indonesischen Gewürze in ihrer 4500 Jahre währenden Geschichte weiterzutragen und als Teil des kulturellen Erbes der indonesischen Nation zu erhalten“. Denn Muskatnüsse aus Banda und Nelken aus Ternate hätten einen ganz eigenen, großartigen Beitrag zur Weltzivilisation geleistet.
Nach malaiischer Leseart hingegen steht unbestritten fest, daß es ihr Landsmann war, der als erster Mensch die Erde umrundete. Magalhães hatte den als „Enrique“ in die europäischen Annalen eingegangen jungen Mann aus Sumatra nach der Eroberung von Malakka durch die Portugiesen 1511 gekauft und nach Portugal gebracht. Für seine Expedition zu den Molukken diente der Sklave ihm als Übersetzer und Vermittler. Nach dem Tod seines Besitzers verschwand „Enrique“ aus der europäischen Geschichte.
Hommage an den Kapitän der Nau Victoria, Juan Sebastián de Elcano, der vor 500 Jahren die Expedition des Fernão de Magalhães zu den „Gewürzinseln“ nach dessen Tod auf Mactan mit dem Triumph der ersten Weltumsegelung krönte. Mural am Busbahnhof von Sanlúcar de Barrameda nach einem Entwurf der Designerin Mireia Leyton aus Sanlúcar de Barrameda, 2019.
Und dann gibt es noch einen in Europa weitgehend ignorierten Vorläufer der ersten europäischen Weltumsegelung. Es ist der chinesische Eunuchenadmiral Zheng He, der sich 1405 zu den größten Pfeffervorkommen des Globus aufmachte, und zwar von Ost nach West zur indischen Malabarküste. In den Folgejahren segelte seine Großflotte weiter nach Hormuz am Persischen Golf, nach Aden auf der Arabischen Halbinsel und nach Malindi und Sansibar in Ostafrika. 1421, also 100 Jahre bevor die Molukkenarmada der Spanier ihr Ziel erreichte, kommandierte er den größten Flottenverband, den die Welt bis zu diesem Zeitpunkt kannte, und provozierte mit seinen Pfefferaufkäufen in Indien einen wahren Preisschock im fernen Europa. Dies wiederum ermutigte die europäischen Seefahrer, allen voran die Portugiesen, einen Seeweg nach Indien zu suchen, indem sie erfolgreich seine Kontakt- und Handelsmethoden imitierten. Zheng He gilt heute in China als Vordenker der „Maritimen Seidenstraße“ des 21. Jahrhunderts, jedoch nun nicht nur bis Afrika, sondern rund um den Globus. red
Inhalt
Beat Presser * Magalhães oder Die Liebe zur Gewalt
Clarita Avila * LapuLapu – ein philippinischer Nationalheld?
Exkurs: Resil B. Mojares * LapuLapu in der philippinischen Volkserzählung
Ronald Daus * „Panglima Awang“ oder „Enrique, der erste Weltumsegler“
Francisco de Borja Aguinagalde Olaizola * Juan Sebastián de Elcano (1487-1526): Der vergessene Protagonist der ersten Weltumsegelung
„Elcano. Un Viaje a la Historia“ von Tomás Mazón Serrano – Eine Wiedergutmachung?
Andri Prasetya Wibowo * Zum Verständnis der pikanten Ereignisse auf den Gewürzinseln zwischen 1519 und 1529
Ursula Daus * Zheng He, Ein chinesischer Seefahrer des 15. Jahrhunderts: Vorbild oder Bedrohnung?
In Berlin und anderswo: Filmstills in Berlin von Beat Presser und Danit * Ein „Rincón Mexicano“ in Andalusien * Kirchner und Nolde in Kopenhagen * Eine Mumie in Basel
Neue Bücher: Der subjektive Blick * Ausnahmezustände
Kolophon: Sanlúcar de Barrameda: Eine verpasste Gelegenheit
KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 39-40/2021 „500 Jahre Weltumsegelung“ – 140 Seiten, 60 Abb. 20 €. ISSN 1433-397
Die Resonanz der spanischen Presse zu unserer Neuerscheinung „Die Casas-Palacio de Cargadores a Indias von El Puerto de Santa María. Ein literarischer Befund“ ist ermutigend für die sich in Vorbereitung befindende spanische Ausgabe des Buches.
Der „Diaro de Cádiz“ schreibt am 25. April 2021:
El Puerto de Santa María ist auch als die „Stadt der Hundert Paläste“ bekannt, und dieser Ehrenname ist zwei architektur- und geschichtsbegeisterten Berlinern nicht entgangen.
Es war im März 2020, als das Berliner Ehepaar, er Universitätsprofessor, sie Forscherin mit Architekturstudium, beschloss, nach El Puerto zu reisen, nachdem sie in der spanischen Presse über das Kunstgalerieprojekt Casa de Indias gelesen hatten. Beide betreiben seit 24 Jahren zusammen mit anderen Partnern eine Kulturzeitschrift namens Kosmopolis – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin(http://www.babylon-metropolis.com), die zweimal im Jahr erscheint, und sie hatten die Idee, einen Artikel über diesen restaurierten Stadtpalast zu schreiben.
Was ursprünglich für zwei Wochen gedacht war, verlängerte sich aufgrund der Pandemie auf mehr als drei Monate, bis sie schließlich Ende Juni in ihr Land zurückkehren konnten.
Aber Ursula erzählt, dass ihr Aufenthalt in El Puerto kein Rückschlag war, sondern eine Gelegenheit, das reiche Erbe von El Puerto und seine Verbindungen zu Amerika zu erforschen. Da sie nichts anderes tun konnten, konzentrierten sie sich auf die Recherche und baten lokale Verlager wie Eduardo Albaladejo um Hintergrundlektüre. Die Autoren schrieben nicht nur einen Artikel für ihre Zeitschrift, sondern ein viel umfangreicheres Werk, das schließlich zu einem Buch wurde, das im Oktober veröffentlicht wurde.
Die nächste Herausforderung: die Veröffentlichung des Buches auf Spanisch.
Um dieses Buch zu schreiben, mussten Ronald und Ursula Daus eine riesige Bibliographie konsultieren und in Quellen wie dem Archivo General de Indias in Sevilla oder der Revista de Historia Portuense sowie in Bänden von lokalen Forschern nachschlagen. Momentan gibt es das Buch nur in einer deutschen Ausgabe, aber das Paar ist in Gesprächen mit dem Verleger Eduardo Albaladejo, dessen Verlag El Boletín (http://edicioneselboletin.com) daran interessiert ist, den Band auf Spanisch zu veröffentlichen. Wie Ursula betont, stammt der größte Teil der vorhandenen Bibliographie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Teresa Almendroshttp://diariodecadiz.es
Die Zeitschrift „Gente del Puerto“ schreibt am 5. Mai 2021:
„4.705: Ursula und Ronald Daus. Zwei deutsche Forscher in El Puerto veröffentlichen ein Buch. In den Worten der Soziologin und Architekturkritikerin Ursula Daus, die schon rund um den Globus recherchiert und geforscht hat: El Puerto de Santa María ist einzigartig. In 150 Jahren vom Glanz ins Elend, sich so schnell zu bereichern und zu verelenden. El Puerto war eine große Entdeckung in den ersten Monaten der Pandemie. Während dieser langen Monate konsultierten sie u.a. Beiträge aus Gente del Puerto, aus Revista de História Portuense, Veröffentlichungen aus dem Verlag von Eduardo Albaladejo, Ediciones El Boletín, sowie eine große Anzahl an Monographien zur Geschichte und Literatur von El Puerto. José María Murillohttp://www.gentedelpuerto.com
Die „Vereinigung Betilo“, die sich der Rettung der historischen Altstadt von El Puerto de Santa María widmet, schreibt am 11. Mai 2021 auf ihrer Facebook-Seite:
„Heute haben wir, die Mitglieder von Asociación BETILO eine persönliche Begegnung mit Ronald und Ursula Daus, deutsche Weltreisende und Forscher, in El Puerto gefeiert. Sie waren durch die Pandemie im Frühjahr 2020 hier festgehalten worden und haben in dieser Zeit einen Essay von 220 Seiten verfaßt mit dem Titel: Die Casas-Palacios de Cargadores a Indias in El Puerto de Santa María im 21. Jahrhundert. Ein literarischer Befund. Sie haben eine unglaubliche und außergewöhnlich Arbeit mit der Durchforstung einer immensen Bibliographie und historischer Dokumente geleistet… und damit ihr intellektuelles und kulturelles Interesse an unserer Stadt gezeigt. Eine Erfahrung, die uns motivieren sollte, die Verteidigung und Rehabilitation unseres alten Stadtzentrums fortzuführen.“ Fernando Jiménez
Mit unserem Essay „Die Casas-Palacio de Cargadores a Indias in El Puerto de Santa María im 21. Jahrhundert. Ein literarischer Befund“ wollen wir die einstige Weltbedeutung dieser heute mittelgroßen andalusischen Provinzstadt an der Cádiz-Bucht zwischen Europa und Amerika aufzeigen. Sie wird außerhalb Spaniens erstaunlicherweise fast völlig ignoriert. Eine große Herausforderung ist der ganz konkrete Erhalt des übermächtigen architektonischen Erbes, welches die Stadtpaläste der Kaufherren der Neuen Welt in ihrer Monumentalität darstellen.
Die „Casa-Palacio de los Rivas“ in der Calle Palacio. Foto R & U Daus, 2020
Die mehr als 2000jährige Geschichte von El Puerto de Santa María beflügelt im 21. Jahrhundert weiter- hin die Phantasie und die konkrete Spurensuche von Schriftstellern, Dichtern, Archäologen, Histori- kern, Architekturhistorikern, Journalisten, Verlegern und Mäzenen. Je länger das „Goldene Zeitalter“ der „Cargadores a Indias“ zurückliegt, umso vehementer wird im städtischen Untergrund und in den Archiven der Kolonialzeit gegraben, geforscht, gesammelt, kompiliert und wortreich aufgeschrieben. Romane, Novellen, Gedichte, Essays, Zeitungsartikel, Glossen, Faksimile-Dokumente, wissenschaft- liche Monographien, alle Textsorten sind vertreten. Die Zahl der gedruckten und digitalen wissen- schaftlichen und populären Zeitschriften, die sich mit dem Thema der „Kaufherren der Neuen Welt“ von El Puerto de Santa María beschäftigen, ist beträchtlich. So bauen sich die Bibliographien in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts zu regelrechten Aussichtstürmen auf, wie sie einst die Dächer der mächtigen „Casas-Palacio de Cargadores a Indias“ überragten, von wo aus der Blick von der Mündung des Guadalete zur Cádiz-Bucht und bis zum offenen Meer reichte, in der trügerischen Hoffnung, am Horizont doch wieder eine mit Gold, Silber und exotischen Waren gefüllte Galeone zu sichten.
„Strandkultur statt Stadtkultur“: Animierte Meeresfauna in einer Bar am Paseo del Neptuno in Valencia. Foto R & U Daus 2019
„Sind wir in der Lage zu begreifen, daß wir alle derselben Spezies angehören, daß uns ein unsichtbares Band mit dem Leben verbindet?“, fragte sich der aus Kamerun stammende Philosoph Achille Mbembe im Juni 2020 in einem Beitrag für das Internet-Magazin „Africa is a Country“. „Sama sama“, was in Sanskrit sowohl gleich als auch ungleich bedeutet, versucht eine Antwort auf diese Frage zu geben, indem es die sprachliche Verbindung zwischen unterschiedlichen Kulturen herstellt. In Indonesien begleitet ein freundliches „sama sama“, gern geschehen, den Alltag, so wie im philippinischen Tagalog „sama-sama“, das Gemeinsame, das Zusammensein in der Gesellschaft betont. Dabei kann alles mit allem kombiniert und gleichzeitig stattfinden. Die derzeit permanent und penetrant von unterschiedlichen ideologischen Positionen eingeforderte Vielfalt und Toleranz existiert bereits seit Jahrtausenden auf unserem Planeten in vielen Kulturen und könnte jederzeit abgerufen werden.
Unsere Autorinnen und Autoren haben sich dieser Mühe unterzogen, mal kritisch, mal ironisch, mal optimistisch. Sie wurden fündig in Myanmar, wo das Zusammenleben zwischen Neuankömmlingen und Altbewohnern auf eine harte Probe gestellt wird nach Jahrzehnten der Abschottung des Landes. Die unkontrollierten Machenschaften chinesischer Investoren im von der Globalisierung überwältigten Phnom Penh stehen genauso zur Diskussion wie die anhaltende Unterdrückung der Meinungsfreiheit, der Kunstfreiheit und der Versammlungsfreiheit im hyperkapitalistischen Kommunismus Chinas. Selbst das ehemalige „Land der Zukunft“ und der ungebrochenen Lebensfreude Brasilien trägt derzeit schwer an seinem traurigen Schicksal eines von Gewalt gezeichneten Alltags unter einer korrupt-faschistoiden Regierung. Und von den weit entfernten Admiralitätsinseln ertönt der Ruf des Chauka, der sich nach der früheren Gemeinschaft des Kastom sehnt, welcher angesichts der Vereinnahmung der Inseln durch die australische Flüchtlingspolitik immer mehr an Bedeutung verliert. red
Inhalt:
Fatimah Tuggar * Home‘s Horizon
Ronald & Ursula Daus * Strandkultur statt Stadtkultur: Valencia
Antonius Moonen * Ethische Gedanken eines Snobs: „Gern Geschehen“
Will Buckingham * Seltsamer Brei. Fremdkörper in Myanmar
Graham W. Fauci * Das Schlamassel
Taciana Fisac * Literatur und Politik in China: Eine dialektische Beziehung
Peter B. Schumann * Brasiliens Kehrtwende in der Kultur
Von Mossul nach Palmyra
In Berlin und anderswo : Annäherungen * Mehr als schönes Dekor * Vom Rand aus gesehen
Neue Bücher: Wiederentdeckt * Ausgeträumt * Fiktion oder Nicht-Fiktion * Im toten Winkel
Kolophon: Die „Casas-Palacio“ in El Puerto de Santa María
In dieser Ausgabe finden sich Rezensionen aus folgenden Verlagen, die teilweise auch auf unserem BLOG veröffentlicht sind:: Taschen, Köln; Hirmer, München; Manesse, Zürich; DOMpubl., Berlin; Scheidegger & Spieß, Zürich, Random House, München; Park, Zürich; mare, Hamburg; S.M. Fischer, Frankfurt a.M.; Hanser, München/Berlin; C.H. Beck, München; Eichborn, Frankfurt a.M.; Residenz, Wien; de Gruyter, Berlin; Kerber, Berlin; Unionsverlag, Zürich; Kehrer, Heidelberg; Weidle, Bonn.
KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 37-38/2020 „Sama Sama“ – 150 Seiten, 66 Abb. 20 €. ISSN 1433-397X
Im toten Winkel
„Der Krieg mit der Natur“, so W. H. Hudson, macht Mensch und Hund zu Verlierern. Eisenskulptur vor einer Kunstgalerie in El Carmen de Patagones am Rio Negro. Foto R & U Daus, 2009
„Farbe vergleichbar mit dem ‚gelben Haar, das auf den östlichen Wolken treibt‘, und ein weißer Leib wie Schnee, von der Röte überzogen – wovon hat die Natur wohl geträumt, als sie solches ihren rohsten, wildesten Menschenkindern verlieh! Dass diese die dunkeläugigen Rassen besiegt und ihnen den Fuß auf den Nacken gesetzt und ihre Werke vernichtet haben sollten, das kommt einem unnatürlich vor und liest sich wie ein Märchen.“ (S. 170) So beschreibt der 1841 in der Pampa Argentiniens geborene Naturbeobachter und Schriftsteller William Henry Hudson seine Empfindungen angesichts der Augenfarbe und Sehkraft von Mensch und Tier zwischen Naturwildnis und Zivilisation. Seine am Unterlauf des Rio Negro aufgezeichneten „Forschungsergebnisse“, die er während „müßiger Tage“ als Rekonvaleszent einer sich selbst beigebrachten Schußverletzung am Ufer des wilden Flusses Rio Negro bei El Carmen de Patagones notierte, verweisen auf seinen geschulten Blick, seine hochstehende intellektuelle Bildung und seine inhärente Kritik am hektisch-blutigen Zivilisationseinbruch in diese bis zu diesem Zeitpunkt nur sporadisch von europäischen Kolonisten besiedelten Region Südamerikas hin. red
Müßige Tage in Patagonien, von William Henry Hudson. Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. 200 S. 22 €. Matthes & Seitz, Berlin 2019 http://www.matthes-seitz-berlin.de
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„Woran ich aber schwer zu schlucken hatte, war die unabweisliche Tatsache: Meine eigenen Leute hatten mich verkauft, und die Weißen hatten mich gekauft… Das machte mir den universellen Charakter von Habgier und Ruhmsucht klar“. In diesem Satz steckt für die Anthropologin und Autorin von „Barracoon“ das gesamte Dilemma der Auseinandersetzung zwischen Schwarzen und Weißen in ehemals sklavenhaltenden Nationen Amerikas. Und aufgrund dieser Aussage wurden auch ihre Gesprächsaufzeichnungen aus dem jahr 1927 mit dem letzten lebenden Afrikaner, der direkt mit dem letzten Sklavenschiff 1860 aus Afrika in die USA verschleppt wurde, Oluale Kossola, erst 2018 im Original veröffentlicht. Üblicherweise erhielten aus Afrika ankommende Sklaven neue Namen. Aus Oluale Kossola wurde Cudjo Lewis, der jedoch entgegen der Annahme seiner weiße Besitzer sein afrikanisches Vorleben nicht vergaß, sich an seine Jugend in Benin, seine Gefangennahme durch afrikanische Sklavenhändler, die Überfahrt sowie sein Leben als Sklave und später als Freigelassener in Alabama erinnerte. Die Suche nach seiner eigenen Identität – wie sie heute intensiv von zahlreichen Diaspora-Autoren betrieben wird – zeichnet diese Gespräche aus.
Zum besseren Verständnis der Besonderheit dieses Testemonio hat die Herausgeberin Deborah G. Plant einen relativ umfangreichen pädagogischen Apparat mitgeliedert. „Barracoon“, vom spanischen „barracón“, große Baracke, nannte sich der Ort, wo die Sklavinnen und Sklaven bis zu ihrem Abtransport gefangen gehalten wurde. Es gibt Erläuterungen wichtigen Begriffen wie „Mittelpassage“, „Orishas“, aber auch am Sklavenhandel beteiligte Personen und afrikanische Stämme, die ihren Lebensunterhalt aus dem westafrikanischen Sklavenhandel untereinander und mit den Weißen bezogen. Eindrucksvoll auch das Geleitwort der afroamerikanischen Autorin Alice Walker: „Wenn man ‚Barracoon‘ liest, versteht man sofort, welches Problem viele Schwarze, vor allem schwarze Intellektuelle und politische Führer, vor Jahren damit hatten. Es benennt schonungslos die Gräueltaten, die afrikanische Völker aneinander verübten, lange bevor angekettete afrikaner traumatisiert, krank, desorientiert, ausgehungert als 2schwarze Fracht“ auf Schiffen im höllischen Westen eintrafen. Wer mag sich das maßlos grausame Verhalten der ‚Brüder und Schwestern‘ eingestehen, die unsere Vorfahren als Erste gefangen nahmen?“ Ursula Daus
Barracoon, Testemonio von Zora Neale Hurston, 224 S. €. Penguin, München 2018
Mit der Ausstellung „Connecting Afro Futures. Fashion*Hair*Design“ hat sich das Kunstgewerbemuseum Berlin auf Neuland begeben. Denn für dieses Ereignis konnten nicht die eigenen Bestände aktiviert werden. Zeitgenössische Afrikanische Mode- und Design-Objekte gehörten bisher nicht zum Fundus des Museums. Als begab sich ein Koordinationsteam nach Afrika, besuchte afrikanische Künstler und Modemacher in Deutschland und Europa und ersetzte das fehlende eigene Vorwissen durch Interviews mit den Eingeladenen. Das führte dann im englisch-sprachigen Katalog zur Ausstellung zu Sätzen wie „The future is the imagination we carry within us of what will be, what will happen, about the existence of something in a near or distant future that emerges suddenly.“ Allgemeiner und unverbindlicher könnte man über das, was man nicht kennt, worüber man nicht urteilen kann, nämlich die Zukunft, auch in keiner anderen Sprache der Welt reden. Afrikas Zukunft liegt allen Mitwirkenden am Herzen. Und so wird mit viel Phantasie an der Vergangenheit der unzähligen Kulturen des Kontinents sich genauso inspiriert wie an der zeitgenössischen digitalen Gesellschaft des sogenannten Westens. Improvisation steht im Zentrum eines Alltags der Modeschöpfer und Frisurenkreateure genau wie beim Rest der afrikanischen Bevölkerung.
Und deshalb ist es immer wieder ein visueller Genuß die Ergebnisse dieser Herangehensweise zu erleben und sich für einen Moment mitreißen zu lassen, denn „hard times require furious dancing“, so die Ansicht des Nigerianers Serubiri Moses. (S. 80) Ursula Daus
Connecting Afro Futures. Fashion*Hair*Design, Kunstgewerbemuseum Berlin. Englisch. 128 S. Zahlreiche Abb. 32 €. Kerber, Berlin 2019 http://www.kerberverlag.com
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Ein mutiges Unterfangen des Museum Rietberg in Zürich bedeutet die Ausstellung „Fiktion Kongo. Kunstwelten zwischen Geschichte und Gegenwart“ angesichts der oftmals hysterisch geführten Diskussion um Restitution afrikanischer Kunst, die während der Kolonialzeit rechtlich oder widerrechtlich erworben wurde. Anlaß zu diesem Projekt gab die Neubewertung der dem Museum überlassenen Fotografien und kongolesischen Sammlerstücke des Schweizer Fotografen Hans Himmelheber (1908-2003), der zwischen 1938 und 1939 Belgisch-Kongo bereiste und sich hauptsächlich mit der Kunst und den Riten der Yaka, Pende, Chokwe und Kuba beschäftigte.
Den historischen Artefakten stehen in der Ausstellung zeitgenössische Werke kongolesischer Künstler gegenüber, die sich mit der Epoche der Kolonisierung und der ganz aktuellen Malaise ihres wegen seiner Reichtümer noch immer mißhandelten Landes und seiner Bevölkerung auseinandersetzen.
Der Direktor des Rietberg Museum hält dieses „innovative Konzept für ein Konzept für die Zukunft“. Die Ausstellung und der begleitende Katalog teilen sich in vier Hauptkapitel: 1. „Forschen, Fotografieren und Kunst erwerben“. Der Fotograf Hans Himmelheber selbst verstand sich als Kunstethnologe und Sammler. Der Weiterverkauf von Objekten, die er während seines Aufenthalts erwarb, diente der Finanzierung seiner Reisen – ein unter Ethnologen und Anthropologen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts übliches Vorgehen. Konterkariert werden die in ihrer Qualität beeindruckenden historischen Dokumente von einer Reihe zeitaktueller Werke wie der Serie „Blackout Poetry/Idea‘s Genealogy“ von David Shongo. Der Künstler verfremdet die historischen Aufnahmen zu Collagen des digitalen Zeitalters.
Im Kapitel „Design und Eleganz“ wird der Bogen von Himmelhebers Beobachtungen über prestigeträchtige Kleidung und Schmuck bei Häuptlingen und Königen zu den Modekapriolen der kongolesischen „Sapeurs“ gespannt, die sich durch dandyhaftes Auftreten und luxuriöse Designerkleidung unter den Bewohnern der Armenvierteln von Kinshasa hervortun.
Im Kapitel „Power und Politik“ dienen rituelle Holzmasken, die Himmelheber bei den Pende erwarb, dem in Kinshasa lebenden Künstler Hilaire Balu Kuyangiko als Vorbild für seine „Nkisi numérique“ aus Elektroschritt. So erschafft er seine „düstere Zukunftsvision der von Konsum, Kapital und Ausbeutung geprägten Weltwirtschaft“.
„Performance und Initiation“ schließen den Rundgang ab, der sich ganz auf Himmelhebers Fotoserien zu Interaktion von Masken, Bewegung und Musik konzentriert. Traditionelle Initiationsriten werden bis heute bei zahlreichen Völkern des Kongo fortgeführt, auch als Gradmesser für männliche Schönheitsideale und generell für das Konzept der Männlichkeit. Weiblichen Initiationsriten wird dabei eher weniger Aufmerksamkeit gewidmet.
„Bugs“, von David Schongo. Aus der Serie „Blackout Poetry/Idea‘s Genealogy“. Lubumbashi 2019. Auftragsarbeit für das Museum Rietberg, Zürich. Aus dem besprochenen Katalog
Das letzte Wort soll einem gehören, für den der Kongo Heimat und Zukunft ist: „Like Kongo, I am Fiction and Future“, schreibt David Shongo unter eine Collage zur Biennale in Lubumbashi 2019. Sie zeigt den Künstler mit einer Maske vor dem Gesicht mit dem Gesicht eines von Himmelheber 1938 Porträtierten. Ursula Daus
Fiktion Kongo. Kunstwelten zwischen Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Nanina Guyer und Michaela Oberhofer. 328 S. Zahlreiche Abb. 48 €. Scheidegger & Spiess, Zürich 2019 http://www.scheidegger-spiess.ch
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In gewohnt lässig-konzentrierter Manier beginnt Patrick Deville auch dieses romaneske Lebensporträt über den „Arzt, Forscher, Seefahrer, Landwirt, Geograf und Mitarbeiter Louis Pasteurs“, Alexandre Yersin, dem Entdecker des Pestbazillus in China. Er entwickelte als Erster einen Impfstoff und befreite im wahrsten Sinne des Wortes die gesamte Menschheit von dieser tödlichen Plage.
Der „Roman“ erschien 2012 in Paris, 2013 in einer ersten deutschen Version und wurde 2017 vom Unionsverlag in einer Taschenbuchausgabe neu aufgelegt. Angesichts der aktuellen weltumspannenden Pandemie aufgrund eines ebenfalls noch nicht völlig entschlüsselten Virus und fehlenden Impfstoffs verschafft die Lektüre einen tiefen Einblick in die Irrungen und Wirrungen des wissenschaftlichen Tuns auf der Suche nach medizinischer Rettung. Der Roman liefert darüber hinaus einen faszinierenden Einblick in des abenteuerliche Leben von Alexander Yersin, der aus dem Schweizer Kanton Waadt stammte, in dem es „außer der Folterung von Insekten… seit vielen Generationen kaum etwas zur Zerstreuung“ gab. (S. 12)
Doch sobald er kann, entflieht er zum Studium nach Deutschland, nach Berlin. Weitere Stationen seiner Ausbildung absolviert er in der Normandie, in Paris. Das Schicksal ist dem „Lebenssüchtigen“ hold, läßt ihn als Schiffsarzt zwischen den Kolonialstationen Frankreichs, Großbritanniens, Portugals verkehren, Colombo, Haiphong, Saigon, Kanton, Hongkong, Macau…. Und dabei findet er seine eigentliche Aufgabe: die Entschlüsselung des Pestbazillus und die Entwicklung eines Impfstoffes. In diesem Leben eines genialen Wissenschaftler trifft Vorbereitung auf Gelegenheit. Tamara Pracel
Pest und Cholera, Roman von Patrick Deville. 236 S., 12,95 €. Unionsverlag, Zürich 2017 http://www.unionsverlag.com
„Auslegerboote am Strand der Insel Ponam“. Admiralitätsinseln, heute Provinz Manus, Papua-Neuguinea. Foto Alfred Bühler, 1932.
Ronald & Ursula Daus
Von der Kunst, in stürmischer See nicht zu kentern. Die Manus der Admiralitätsinseln im 21. Jahrhundert
Im Januar 2019 erhielt der kurdisch-iranische Journalist und Schriftsteller Behrouz Boochani gleich zwei wichtige australische Literaturpreise, darunter den „Victorian Prize for Literature“ für sein poetisches Sachbuch „No Friend But The Mountains. Writing From Manus Prison“. Darin beschreibt er sezierend und ergreifend den Alltag in den geschlossenen Flüchtlingslagern von Manus, die die australische Regierung auf der abgelegenen Südpazifikinsel für Asylsuchende eingerichtet hatte, die vor der australischen Küste aufgegriffen wurden. Obwohl die Lager 2017 schließen mußten, harrt ein Großteil der Flüchtlinge weiterhin auf Manus aus, darunter auch Behrouz Boochani.
Die Welt nimmt Anteil am unmenschlichen Schicksal der Flüchtlinge. Geradezu Stillschweigen breitet sich jedoch aus, wenn es um die Interessen der Manus-Bewohner selbst geht, deren Heimat in der Weltpresse als „Pazifischer Gulag“, „Drecksloch“ oder „Hölle im Pazifik“ bezeichnet wird. Den Manus von den Admiralitätsinseln wurde seit den ersten Kontakten mit europäischen Seefahrern ein besonderes Image aus Neugierde, Aufgeschlossenheit und Intelligenz bescheinigt. Da sie selbst keine schriftlichen Zeugnisse über diese für sie so einschneidende Epoche hinterließen, nehmen wir die aus vier Jahrhunderten überlieferten Texte, Bilder und ethnographischen Artefakte und konfrontieren sie einerseits mit aktuellen Aussagen von Manus-Bewohnern wie der Anthropologin Michelle Nayahamui Rooney, andererseits mit „Testimonios“ von Nicht-Manus aus Literatur, Wissenschaft und Medien.
Aus dem Inhalt:
I. Die Inseln: Vulkane, Atolle, Meer
II. Die Bewohner: „Papu“ – Manus, Matankol, Usiai
III. Der Konakt: „Entdecker“, Abenteurer, Künstler
IV. Die Anpassung: Geschäfte, Verwaltung, „Zivilisation“
V. Das alte Weltbild: Vom „Suppenteller“ zum Globus
VI. Das neue Weltbild: Von der Weltläufigkeit zur „einsamen Lagune“
… Eine umso größere Rolle spielt der Chauka im Leben der Manus-Bewohner. Er findet sich auf der Flagge der Manus-Provinz, leiht der lokalen Radiostation seinen Namen mit dem Slogan „Maus Blong Chauka“, Die Stimme von Chauka, und zierte von altersher Werkzeuge, Waffen und Haushaltgegenstände.
Seine Weltbedeutung erhielt der emblematische Vogel jedoch nicht durch einen ornitologischen „Hype“, sondern als Namensgeber eines Dokumentarfilms über das Flüchtlingsgefängnis auf Ma- nus. In „Chauka, Please Tell Us The Time“, Chauka, bitte sage uns die Zeit, 2017, erzählt der kurdisch-iranische „Flüchtlingsgefangene“ Boochani vom unerträglichen Warten hinter dem Zaun des Lagers, hinter den Metallwänden der Schlafcontainer, in den schmalen Gängen zwischen den Containern und in der erdrückenden Hoffnungslosigkeit. Der Film wurde heimlich mit einem Smartphone gedreht und von dem iranischen Exilregisseur Sarvestani in Amsterdam, 15 000 Kilometer von seinem Entstehungsort, aufbereitet. Er wurde seither mit großer Unterstützung und nicht endenwollenden Beifallsbekundungen der Weltpresse und der Zuschauer bei Festivals in London, Melbourne, Berlin, Sydney und den USA gezeigt: „Chauka, Please tell us the time: Chauka singt. Die Melodie wandert weiter/Chauka schreit/Singt/Schreit//Schreien und Singen verbinden sich in der Stimme des Vogels/Ein Moment Stille/Chauka schreit noch einmal/Eine Harmonie entsteht durch Schreien/ Ein Lärm, der in die tiefsten Tiefen des Dschungels reicht/In die tiefsten Höhlen/Schreie steigen aus den Kehlen aller Vögel der Manus-Insel auf/Alle Vögel von Manus erzeugen eine Symphonie/Alle erreichen ihren Höhepunkt in der Stimme des Chauka.“
Die Manus-Bewohner hingegen sehen unglücklich-hilflos diesem unerfreulichen Weltruhm ihres Wappentiers zu. Und was sie noch mehr erzürnt, ist, daß die Einzelzelle im Flüchtlingslager den Namen „Chauka“ trägt. Vor der Welt dient ihre Insel sozusagen als Mülldeponie für die Probleme eines anderen Landes und beschmutzt das Ansehen von Manus. Von einem Symbol der Selbstbestimmung wurde Chauka zu einem Sinnbild von „Regierungsmacht, Geheimniskrämerei und Unfreiheit“, schreibt die aus Manus stammende Anthropologin Michelle Nayahamui Rooney in ihrem Essay „The Chauka bird and morality on our Manus Island home“, Der Chauka und die Moral auf unserer Heimatinsel Manus, im Februar 2018. Den Dokumentarfilm „Chauka, Please Tell Us The Time“ des kurdisch-iranischen „Flüchtlingsgefangenen“ Boochani empfindet sie als den erneuten Ruf des Chauka nach Freiheit.
Mit ihrem Gedicht „Chauka, yu we?“ „Chauka, wo bist Du?“ reagierte sie auf poetische Weise auf den Verlust der Harmonie in der Manus-Gesellschaft durch die Präsenz des australischen Flüchtlingslagers auf ihrer Insel. „Maus bilong Chauka“:
„Belo pairap, skul i pinis. Mi harim solwara i bruk long nambis. Mi smelim solwara long win. Mi lap wantem ol wanskul na kalap. Solwara pulap long maus blo mi. Chauka i singaut.
Mi lap na hamamas. Olsem liklik pis. Ol brata na sista pilai long nambis.
Mi kalap lon bas i go long Lombrum. Solwara olsem glas long loniu pasis i silip sore; isi isi stret solwara karim bas lon Loniu Bris. Solwara karim mipla go long Lolak Bris. Chauka i singaut. Long apinun bas i ron go bek lon taun. Win i pas long pes blo mi. Mi smelim solwara. San i go daun.
Sun kamap taim blo skul. Harim news na toksave lang Redeo Manus, ‚maus bilong chauka i hamamas tasol long autim ol news na toksave. Em i maus bilong Chauka‘. Chauka i singaut. Ol nasi na papu stap. Mipela vokabaut i go long skul. Solwara i buruk long nambis. Chauka i singaut. Kirap silip kaikai, na wokabout wantem Chauka. Hamamas, kros, na wok. Wok kastam, wok mani, wok gavman, wok lotu. Chauka i singaut.“
„Die Stimme von Chauka“:
„Die Glocke läutet, die Schule ist aus. Ich höre die Wellen am Strand. Ich rieche das Meer im Wind. Ich lache mit meinen Schulfreundinnen und hüpfe. Seewasser füllt meinen Mund. Der Chauka ruft. Ich lache vor Freude. Wie kleine Fische. Meine Brüder und Schwestern spielen im Meer.
Ich nehme den Bus nach Lombrum. Die glitzernde See bei der Loniu-Passage ist melan- cholisch; langsam fährt der Bus über die Loniu-Brücke. Er bringt uns über die Lolak- Passage. Der Chauka ruft. Am Nachmittag kehrt der Bus in die Stadt zurück. Der Wind bläst mir ins Gesicht. Ich rieche das Meer. Die Sonne geht unter.
Die Sonne geht auf, Zeit in die Schule zu gehen. Ich höre die Nachrichten und Ankündi- gungen auf Radio Manus, ‚die Stimme von Chauka ist sehr glücklich, euch die Nachrich- ten und Ankündigungen zu bringen. Das ist die Stimme von Chauka‘. Der Chauka ruft. Unsere Großmütter und Großväter bleiben zurück. Wir gehen zur Schule. Die Meereswellen brechen sich am Strand. Der Chauka ruft.
Aufwachen, schlafen, essen und ins Bett gehen mit Chauka. Überall Glück und Arbeit. Kastom, der alte Brauch, Arbeit für Geld, Arbeit für die Regierung, Arbeit für die Kirche. Der Chauka ruft.“
Vor allem die allmähliche Abkehr von Kastom, dem uralten Brauch der sozialen Verpflich- tung zum Geschenktausch unterminiert den Zusammenhalt auf Manus… (S. 105-108)
Das Motiv des Lebensbaums gehörte zu den weit verbreiteten Darstellungen auf Indiennes. Der Einfluss der Chinoiserien ist bei diesem Exemplar unverkennbar. Wandbehang, um 1740, Koromandelküste. Museum Rietberg, Zürich
In der Ausstellung „Indiennes. Stoff für tausend Geschichten“ des Schweizerischen Nationalmuseums wird weitaus mehr als nur eine Fußnote zur globalen Textilgeschichte präsentiert. Es geht um die Rolle, die Schweizer Textil- und Baumwollimporteure zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert einnahmen. Die als „Indiennes“ bezeichneten bedruckten und bemalten Baumwollstoffe aus Indien galten als Kostbarkeit und provozierten einen regelrechten „Hype“ in den adligen und später bürgerlichen Kreisen, die sich diesen Luxus erlauben konnten.
Daß Schweizer Textilproduzenten überhaupt in dieses ihnen eher fernliegende Unternehmen einstiegen, lag an zwei historischen Ereignisse: 1. die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich, die über das Wissen zur Herstellung dieses Produkts verfügten, und 2. die risikoreiche Suche nach hochprofitablen Erzeugnissen, wie sie die „Indiennes“ nach ihrem Einfuhrverbot durch die merkantilistische Regierung von Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert nach Frankreich boten.
Die Schweizer taten sich schnell als „Transitakteure“ dieses Handels hervor, der u.a. auch dem sogenannten Dreieckshandel zwischen Europa, Amerika und Afrika diente. Die afrikanischen Potentaten etwa konnten sich offensichtlich nur mit dem Verkauf ihrer Landsleute die für den Erwerb der teuren Stoffe notwendigen Mittel beschaffen. Doch die Schweizer bildeten in diesem Geschäft nicht nur Mittelsmänner, Produzenten in der Heimat, sondern unterhielten auch regelrechte „Kolonialbetriebe“, wie etwa die der Basler Mission, die ab 1834 in Indien präsent war und später dort auch „Indiennes“-Werkstätten anlegte. Es gelang diesen umtriebigen Schweizer Unternehmern also früh auf der Seite der Kolonialismus-Gewinner zu stehen, ohne sich die „schmutzige Weste“ des Kolonialisten überziehen zu müssen. Mit prächtigen Luxusstoffen zu handeln oder sie in den eigenen Manufakturen zu imitieren, ganz dem Geschmack der Abnehmer aus Europa und Afrika entsprechend, führte zu immensen Profitmargen, bis billigere Industrieverfahren diese hochklassige Handwerkskunst überflüssig machten. Doch die Erfahrungen im Textilhandel befähigte die Entrepreneure weiterhin in dieser Branche zu reüssieren. Sie setzten auf den weltweiten Im- und Export der Rohbaumwolle nach Europa – ohne selbst mit dem Anbau, der Ernte oder der Verschiffung belästigt zu sein – und gingen erneut als Gewinner aus diesem technologischen Umbruchs hervor. Anders die indischen Klein-Produzenten der „Indiennes“, die sich nie wieder von diesem ungleichen Konkurrenzkampf erholten. Selbst Mahatma Gandhis Aufruf beim Kampf für die Unabhängigkeit, „Zurück an die Spinnräder“, konnte den Niedergang der indischen Baumwollhersteller nicht aufhalten.
Der kostbar in Leinen gebundene Ausstellungskatalog mit seinen kurz gefaßten, fundierten Beiträgen, seinen historischen Fotos sowie prächtigen Farbbeispiele berühmter „Indiennes“ macht Lust, den üblicherweise eher bescheiden gehandelten Stoff in seinen ästhetischen und qualitativen Möglichkeiten neu zu erproben. Ursula Daus
Indiennes. Stoff für tausend Geschichten. 136 S. 75 Abb. 32 €. Christoph Merian, Zürich 2019. Ausstellung bis 19. Januar 2020 im Schweizerischen Nationalmuseum, Bern. http://www.merianverlag.ch
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Von Mossul nach Palmyra
Beschädigter Suk al-Saqatiya in Aleppo. Restaurierungsansicht, Schnitt und Grundriss. Foto und Entwurfszeichnungen Al-Turrath/ Aga Khan Trust for Culture, 2017.
Palmyra, Mossul, Aleppo, Leptis Magna – vier Städtenamen, die für ein Entsetzen stehen: ihre Zerstörung durch Fanatismus und Krieg. Was bei dieser virtuellen Zusammenschau erstaunt, ist die Verknüpfung von willkürlich zertrümmerten Jahrtausende alten Ruinenstätten mit noch immer bewohnten Metropolen des Nahen Ostens, in deren kriegszerstörten Ruinen die Menschen versuchen, ein neues Leben zu beginnen. Das Verlorene sowie das Zerstörte zeigen historische und aktuelle Fotos in der Ausstellung, die im „Institut du Monde Arabe“ in Paris konzipiert wurde. Das hoffnungsvoll Aufzurichtende liefern die virtuellen Ansichten. Daß es sich bei den ausgewählten Projekten um Weltkulturerbe-Stätten handelt, macht das Anliegen nicht weniger kurios. Fragen zum „Neubeginn für Aleppo“ oder in Mossul weisen in die einzuschlagende Richtung für die ausharrenden oder zurückkehrenden Bewohner. Ob man die Ruinenstätte Palmyra, trotz ihres historisch so bedeutsamen Wertes, wieder in ihren Zustand vor der Zerschlagung durch den sogenannten IS versetzen soll, ist kein drängendes Problem. Und Leptis Magna, die wenig besuchte römische Ruinenstadt in Libyen, braucht derzeit nur eines – Schutz vor weiterer Plünderung ihrer Antikenschätze. red
Von Mossul nach Palmyra. Eine virtuelle Reise durch das Weltkulturerbe. 120 S., 120 Farb-Abb. 27,50 €. Hirmer, München 2019. Bis 3. November 2019 in der Bundeskunsthalle, Bonn. http://www.hirmerverlag.de
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ANNÄHERUNGEN
Die Moderne in Südostasien steht im Mittelpunkt eines Netzwerks mit dem vielsagenden englischen Akronym SEAM (South East Asian Modernism), was auch als „Naht“ gelesen werden kann. Es beschäftigt sich mit Stadträumen, die als Folge der Bauhaus-Moderne der 1920/1930er Jahre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Südostasien – vor allem nach der Unabhängigkeit der vier Nationen von ihren europäischen Kolonialmächten – ihre Wirkung entfalteten. Vier Metropolen stehen im Zentrum des Projektes: Phnom Penh, Jakarta, Yangon und Singapur. In jeder der genannten urbanen Zentren werden Symposion in offenen Diskussionen und zum Stand der Forschung veranstaltet. Jede der ausgewählten Agglomerationen steht derzeit an einem Scheideweg ihrer zukünftigen Entwicklung ausgehend von ihren historischen Strömungen. Yangon hat vor einer Dekade den Status als Hauptstadt an die Neugründung Naypyitaw verloren, ist jedoch mit der Öffnung des Landes von einem expansiven Bauboom betroffen, der eher rücksichtslos als durchdacht wirkt. Phnom Penh gilt als „Opfer“ frenetischer ausländischer, vor allem chinesischer Immobilieninvestoren. Jakartas Zukunft ist ungewiss, da bereits konkrete Verlagerungspläne für eine neue Hauptstadt diskutiert und angegangen werden. Einzig Singapure kann als zuverlässiger Zukunftsmotor für das Weiterdenken einer vor hundert Jahren begonnenen Moderne im Sinne des Bauhauses verstanden werden. Wo in dieser hektischen Phase der globalen Veränderung das „Lokale“ noch seinen Platz einnimmt und ob eine Rückkehr zu einst weitverbreiteten lokalen Bautechniken überhaupt möglich scheint, wird zu diskutieren sein. Architekten und Stadtplaner Südostasiens, aber auch weltweit gefragte „Stararchitekten“ sollen in diesen Diskurs miteinbezogen werden, innehalten und „bereits vorhandenes Wissen zur weiteren Entwicklung für die Stadt von Morgen“ in ihre Planungen miteinbeziehen, schreiben die Initiatoren. red
seam encounters – connecting ideas through spaces. Veranstaltungsreihe des in Berlin beheimateten Netzwerks vom 21. Oktober bis 23. November 2019 in Jakarta, Phnom Penh, Singapore, Yangon. http://www.sean-encounters.net
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„Yangon Backstage“. Verwitterte historische Altstadtfassade im indo-burmesischen Stil. Ausschnitt. Foto Wolfgang Bellwinkel, 2015
Offensichtlich gehört das Gründen von Hauptstädten zur nationalen DNA der Burmesen. Der jüngste Sproß dieser Leidenschaft ist die 2005 von der Nationalregierung, dem Militär und dem Parlament offiziell bezogene Kapitale Naypyitaw im wenig erschlossenen Zentrum des Landes. „Der einer verbotenen Stadt gleichende Parlamentskomplex wird von Ortskundigen mit dem Präsidentenpalais und den Ministerbüros, als das vor der Öffentlichkeit matrialisch abgeschirmte Herz von Naypyitaw bezeichnet“, schreibt Heinz Schütte, der Verfasser der Studie „Naypyitaw. Eine Annäherung“. Der Titel ist absichtlich vage gehalten, da die meisten Informationen zur Gründung, Realisierung und Besiedelung dieses immensen, auch 2018 noch immer relativ leeren Raumes auf Gesprächen, Annahmen und Vermutungen basieren.
Seit sich das Militär offiziell aus den meisten Regierungsämtern zurückgezogen hat, die mit einer wirtschaftlichen Öffnung des Landes einherging, kann Naypyitaw auch von Ausländern unter Auflagen besucht werden. Sie sind in bewachten Luxus-Resorts untergebracht und dürfen sich nur eingeschränkt innerhalb des Areals bewegen. Nach Ansicht des Autors dient die neue Hauptstadt in erster Linie der Wiederherstellung der „Reinheit des burmesischen Reiches“ als Einheit der buddhistischen Bama und nicht einer multiethnischen und multireligiösen Nation.
In dieser megalomanen, in „unmenschlichen Dimensionen“ geschaffenen Nicht-Stadt sollen nicht nur abgeschlossene Wohnareale für die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen einer „gloriosen Zukunft“ mit fließendem Wasser und Internetanschluß entgegensehen. Auch klimatisierte Shopping Malls und Vergnügungseinrichtungen sind im Entstehen. Realisiert wurden die bisherigen Gebäude unterschiedlicher Funktionen in erster Linie von chinesischen Kontraktoren, die sich damit weitere, lukrativere Investitonen in den Grenzregionen und in der Wirtschaftsmetropole Yangon sicherten. Dennoch gibt es auch „abgelegene Ecken mit menschlicher Nähe“ wie am Busbahnhof oder in den einstigen Reisbauerndörfern, die sich mitten im Hauptstadt-Distrikt befinden.
Offensichtlich dient in diesem Fall „Raumplanung zur Unterdrückung der sozialen Akteure“ oder anders gefaßt, findet hier „Diktatur durch Kartographie“ statt. Insofern eignet sich Naypyitaw nicht zu einem Vergleich von ähnlichen Projekten wie der Gründung des australischen Canberra, Brasilia oder dem nigerianischen Abuja, wo sich im Laufe der Jahre eine großstädtische Normalität unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und Interessen eingestellt hat. Der Autor kommt zu dem Schluß, daß man es in diesem Fall mit einer „pluralen Gesellschaft ohne Gemeinschaft“ zu tun habe. Wer von den zwangsverpflichteten Funktionären aus Regierung und Verwaltung es sich leisten kann, verläßt, wann immer möglich, diesen „unheimlichen Ort einer Fantasy-Szenerie“ und kehrt in die „Realität“ von Yangon, der einstigen Hauptstadt und heutigen Wirtschaftsmetropole zurück.
Schon zwei Jahre zuvor hatte Heinz Schütte mit „Yangon. Ein historischer Versuch“ eine umfassende Monographie vorgelegt über die Entstehung der Königsstadt „Dagon“, ihre Unterwerfung unter die britische Kolonialherrschaft als „Rangun“ im 19. Jahrhundert, die unerfüllten Hoffnungen der Stadtbewohner auf Selbstbestimmung während der japanischen Besatzung im 2. Weltkrieg und ihr allmählicher Niedergang in den Unabhängigkeitswehen und als neubenanntes „Yangon“ während der Militärdiktatur.
Es ist ein gelungene „Erzählung“ über Yangons multikulturelle Vergangenheit und mißlungene postmoderne Gegenwart. Deren Bevölkerung will den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur mühsam ein Lächeln abgewinnen und rettet sich angesichts des globalen Wettbewerbs in die überkommenen Rituale buddhistischer Selbstversenkung und eines Gemeinschaftskonsenses. Das „Andere“ wird mit zunehmender Präsenz noch vehementer abgelehnt, seien es westliche Langzeitbewohner (s. unseren Beitrag in dieser Ausgabe S. 43ff.) oder bereits seit altersher in Yangon lebende Nicht-Bama und Nicht-Buddhisten.
Die Fotoserie „Yangon Backstage“ von Wolfgang Bellwinkel gibt einen Einblick in die baulichen Herausforderungen, die das historische Zentrum, aber auch die schnell errichteten Vorstädte des ausgehenden 20. Jahrhunderts an Fachleute und Bewohner stellen. Bei allen Schwierigkeiten scheinen die Bewohner Yangons dennoch weiterhin im Gleichklang mit ihrem Zentrum zu leben, denn hier steht – unbeeindruckt und zeitloses Vertrauen – einflößend die golden strahlende Schwedagon-Pagode. „Herz, was willst Du mehr“, könnte man dieses Phänomen lobpreisen. Denn welche Millionenmetropole bietet Bewohnern und Besuchern ein solches Privileg, einen überirdisch, geradezu himmlischen Ort in seiner Nähe zu wissen, der einen offen empfängt und dessen schattige mit lächelnd-ruhenden Buddhastatuen bestückten Pavillons zu Ruhe und Einkehr einladen? Ronald Daus
Naypyitaw. Eine Annäherung, von Heinz Schütte. 114 S. 19,90 €. regioSPECTRA, Berlin 2019
Yangon. Ein historischer Versuch, von Heinz Schütte. Fotos Wolfgang Bellwinkel (s. S. 46/51 in dieser Ausgabe). 364 S. 29,90 €. regioSPECTRA, Berlin 2017. http://www.regiospectra.de