
„Sind wir in der Lage zu begreifen, daß wir alle derselben Spezies angehören, daß uns ein unsichtbares Band mit dem Leben verbindet?“, fragte sich der aus Kamerun stammende Philosoph Achille Mbembe im Juni 2020 in einem Beitrag für das Internet-Magazin „Africa is a Country“. „Sama sama“, was in Sanskrit sowohl gleich als auch ungleich bedeutet, versucht eine Antwort auf diese Frage zu geben, indem es die sprachliche Verbindung zwischen unterschiedlichen Kulturen herstellt. In Indonesien begleitet ein freundliches „sama sama“, gern geschehen, den Alltag, so wie im philippinischen Tagalog „sama-sama“, das Gemeinsame, das Zusammensein in der Gesellschaft betont. Dabei kann alles mit allem kombiniert und gleichzeitig stattfinden. Die derzeit permanent und penetrant von unterschiedlichen ideologischen Positionen eingeforderte Vielfalt und Toleranz existiert bereits seit Jahrtausenden auf unserem Planeten in vielen Kulturen und könnte jederzeit abgerufen werden.
Unsere Autorinnen und Autoren haben sich dieser Mühe unterzogen, mal kritisch, mal ironisch, mal optimistisch. Sie wurden fündig in Myanmar, wo das Zusammenleben zwischen Neuankömmlingen und Altbewohnern auf eine harte Probe gestellt wird nach Jahrzehnten der Abschottung des Landes. Die unkontrollierten Machenschaften chinesischer Investoren im von der Globalisierung überwältigten Phnom Penh stehen genauso zur Diskussion wie die anhaltende Unterdrückung der Meinungsfreiheit, der Kunstfreiheit und der Versammlungsfreiheit im hyperkapitalistischen Kommunismus Chinas. Selbst das ehemalige „Land der Zukunft“ und der ungebrochenen Lebensfreude Brasilien trägt derzeit schwer an seinem traurigen Schicksal eines von Gewalt gezeichneten Alltags unter einer korrupt-faschistoiden Regierung. Und von den weit entfernten Admiralitätsinseln ertönt der Ruf des Chauka, der sich nach der früheren Gemeinschaft des Kastom sehnt, welcher angesichts der Vereinnahmung der Inseln durch die australische Flüchtlingspolitik immer mehr an Bedeutung verliert. red
Inhalt:
Fatimah Tuggar * Home‘s Horizon
Ronald & Ursula Daus * Strandkultur statt Stadtkultur: Valencia
Antonius Moonen * Ethische Gedanken eines Snobs: „Gern Geschehen“
Will Buckingham * Seltsamer Brei. Fremdkörper in Myanmar
Graham W. Fauci * Das Schlamassel
Taciana Fisac * Literatur und Politik in China: Eine dialektische Beziehung
Michelle Nayahamui Rooney * Chauka yu we? Chauka wo bist du?
Peter B. Schumann * Brasiliens Kehrtwende in der Kultur
Von Mossul nach Palmyra
In Berlin und anderswo : Annäherungen * Mehr als schönes Dekor * Vom Rand aus gesehen
Neue Bücher: Wiederentdeckt * Ausgeträumt * Fiktion oder Nicht-Fiktion * Im toten Winkel
Kolophon: Die „Casas-Palacio“ in El Puerto de Santa María
In dieser Ausgabe finden sich Rezensionen aus folgenden Verlagen, die teilweise auch auf unserem BLOG veröffentlicht sind:: Taschen, Köln; Hirmer, München; Manesse, Zürich; DOMpubl., Berlin; Scheidegger & Spieß, Zürich, Random House, München; Park, Zürich; mare, Hamburg; S.M. Fischer, Frankfurt a.M.; Hanser, München/Berlin; C.H. Beck, München; Eichborn, Frankfurt a.M.; Residenz, Wien; de Gruyter, Berlin; Kerber, Berlin; Unionsverlag, Zürich; Kehrer, Heidelberg; Weidle, Bonn.
KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 37-38/2020 „Sama Sama“ – 150 Seiten, 66 Abb. 20 €. ISSN 1433-397X
Im toten Winkel

Eisenskulptur vor einer Kunstgalerie in El Carmen de Patagones am Rio Negro. Foto R & U Daus, 2009
„Farbe vergleichbar mit dem ‚gelben Haar, das auf den östlichen Wolken treibt‘, und ein weißer Leib wie Schnee, von der Röte überzogen – wovon hat die Natur wohl geträumt, als sie solches ihren rohsten, wildesten Menschenkindern verlieh! Dass diese die dunkeläugigen Rassen besiegt und ihnen den Fuß auf den Nacken gesetzt und ihre Werke vernichtet haben sollten, das kommt einem unnatürlich vor und liest sich wie ein Märchen.“ (S. 170) So beschreibt der 1841 in der Pampa Argentiniens geborene Naturbeobachter und Schriftsteller William Henry Hudson seine Empfindungen angesichts der Augenfarbe und Sehkraft von Mensch und Tier zwischen Naturwildnis und Zivilisation. Seine am Unterlauf des Rio Negro aufgezeichneten „Forschungsergebnisse“, die er während „müßiger Tage“ als Rekonvaleszent einer sich selbst beigebrachten Schußverletzung am Ufer des wilden Flusses Rio Negro bei El Carmen de Patagones notierte, verweisen auf seinen geschulten Blick, seine hochstehende intellektuelle Bildung und seine inhärente Kritik am hektisch-blutigen Zivilisationseinbruch in diese bis zu diesem Zeitpunkt nur sporadisch von europäischen Kolonisten besiedelten Region Südamerikas hin. red
Müßige Tage in Patagonien, von William Henry Hudson. Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. 200 S. 22 €. Matthes & Seitz, Berlin 2019 http://www.matthes-seitz-berlin.de
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„Woran ich aber schwer zu schlucken hatte, war die unabweisliche Tatsache: Meine eigenen Leute hatten mich verkauft, und die Weißen hatten mich gekauft… Das machte mir den universellen Charakter von Habgier und Ruhmsucht klar“. In diesem Satz steckt für die Anthropologin und Autorin von „Barracoon“ das gesamte Dilemma der Auseinandersetzung zwischen Schwarzen und Weißen in ehemals sklavenhaltenden Nationen Amerikas. Und aufgrund dieser Aussage wurden auch ihre Gesprächsaufzeichnungen aus dem jahr 1927 mit dem letzten lebenden Afrikaner, der direkt mit dem letzten Sklavenschiff 1860 aus Afrika in die USA verschleppt wurde, Oluale Kossola, erst 2018 im Original veröffentlicht. Üblicherweise erhielten aus Afrika ankommende Sklaven neue Namen. Aus Oluale Kossola wurde Cudjo Lewis, der jedoch entgegen der Annahme seiner weiße Besitzer sein afrikanisches Vorleben nicht vergaß, sich an seine Jugend in Benin, seine Gefangennahme durch afrikanische Sklavenhändler, die Überfahrt sowie sein Leben als Sklave und später als Freigelassener in Alabama erinnerte. Die Suche nach seiner eigenen Identität – wie sie heute intensiv von zahlreichen Diaspora-Autoren betrieben wird – zeichnet diese Gespräche aus.
Zum besseren Verständnis der Besonderheit dieses Testemonio hat die Herausgeberin Deborah G. Plant einen relativ umfangreichen pädagogischen Apparat mitgeliedert. „Barracoon“, vom spanischen „barracón“, große Baracke, nannte sich der Ort, wo die Sklavinnen und Sklaven bis zu ihrem Abtransport gefangen gehalten wurde. Es gibt Erläuterungen wichtigen Begriffen wie „Mittelpassage“, „Orishas“, aber auch am Sklavenhandel beteiligte Personen und afrikanische Stämme, die ihren Lebensunterhalt aus dem westafrikanischen Sklavenhandel untereinander und mit den Weißen bezogen. Eindrucksvoll auch das Geleitwort der afroamerikanischen Autorin Alice Walker: „Wenn man ‚Barracoon‘ liest, versteht man sofort, welches Problem viele Schwarze, vor allem schwarze Intellektuelle und politische Führer, vor Jahren damit hatten. Es benennt schonungslos die Gräueltaten, die afrikanische Völker aneinander verübten, lange bevor angekettete afrikaner traumatisiert, krank, desorientiert, ausgehungert als 2schwarze Fracht“ auf Schiffen im höllischen Westen eintrafen. Wer mag sich das maßlos grausame Verhalten der ‚Brüder und Schwestern‘ eingestehen, die unsere Vorfahren als Erste gefangen nahmen?“ Ursula Daus
Barracoon, Testemonio von Zora Neale Hurston, 224 S. €. Penguin, München 2018
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Mit der Ausstellung „Connecting Afro Futures. Fashion*Hair*Design“ hat sich das Kunstgewerbemuseum Berlin auf Neuland begeben. Denn für dieses Ereignis konnten nicht die eigenen Bestände aktiviert werden. Zeitgenössische Afrikanische Mode- und Design-Objekte gehörten bisher nicht zum Fundus des Museums. Als begab sich ein Koordinationsteam nach Afrika, besuchte afrikanische Künstler und Modemacher in Deutschland und Europa und ersetzte das fehlende eigene Vorwissen durch Interviews mit den Eingeladenen. Das führte dann im englisch-sprachigen Katalog zur Ausstellung zu Sätzen wie „The future is the imagination we carry within us of what will be, what will happen, about the existence of something in a near or distant future that emerges suddenly.“ Allgemeiner und unverbindlicher könnte man über das, was man nicht kennt, worüber man nicht urteilen kann, nämlich die Zukunft, auch in keiner anderen Sprache der Welt reden. Afrikas Zukunft liegt allen Mitwirkenden am Herzen. Und so wird mit viel Phantasie an der Vergangenheit der unzähligen Kulturen des Kontinents sich genauso inspiriert wie an der zeitgenössischen digitalen Gesellschaft des sogenannten Westens. Improvisation steht im Zentrum eines Alltags der Modeschöpfer und Frisurenkreateure genau wie beim Rest der afrikanischen Bevölkerung.
Und deshalb ist es immer wieder ein visueller Genuß die Ergebnisse dieser Herangehensweise zu erleben und sich für einen Moment mitreißen zu lassen, denn „hard times require furious dancing“, so die Ansicht des Nigerianers Serubiri Moses. (S. 80) Ursula Daus
Connecting Afro Futures. Fashion*Hair*Design, Kunstgewerbemuseum Berlin. Englisch. 128 S. Zahlreiche Abb. 32 €. Kerber, Berlin 2019 http://www.kerberverlag.com
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Ein mutiges Unterfangen des Museum Rietberg in Zürich bedeutet die Ausstellung „Fiktion Kongo. Kunstwelten zwischen Geschichte und Gegenwart“ angesichts der oftmals hysterisch geführten Diskussion um Restitution afrikanischer Kunst, die während der Kolonialzeit rechtlich oder widerrechtlich erworben wurde. Anlaß zu diesem Projekt gab die Neubewertung der dem Museum überlassenen Fotografien und kongolesischen Sammlerstücke des Schweizer Fotografen Hans Himmelheber (1908-2003), der zwischen 1938 und 1939 Belgisch-Kongo bereiste und sich hauptsächlich mit der Kunst und den Riten der Yaka, Pende, Chokwe und Kuba beschäftigte.
Den historischen Artefakten stehen in der Ausstellung zeitgenössische Werke kongolesischer Künstler gegenüber, die sich mit der Epoche der Kolonisierung und der ganz aktuellen Malaise ihres wegen seiner Reichtümer noch immer mißhandelten Landes und seiner Bevölkerung auseinandersetzen.
Der Direktor des Rietberg Museum hält dieses „innovative Konzept für ein Konzept für die Zukunft“. Die Ausstellung und der begleitende Katalog teilen sich in vier Hauptkapitel: 1. „Forschen, Fotografieren und Kunst erwerben“. Der Fotograf Hans Himmelheber selbst verstand sich als Kunstethnologe und Sammler. Der Weiterverkauf von Objekten, die er während seines Aufenthalts erwarb, diente der Finanzierung seiner Reisen – ein unter Ethnologen und Anthropologen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts übliches Vorgehen. Konterkariert werden die in ihrer Qualität beeindruckenden historischen Dokumente von einer Reihe zeitaktueller Werke wie der Serie „Blackout Poetry/Idea‘s Genealogy“ von David Shongo. Der Künstler verfremdet die historischen Aufnahmen zu Collagen des digitalen Zeitalters.
Im Kapitel „Design und Eleganz“ wird der Bogen von Himmelhebers Beobachtungen über prestigeträchtige Kleidung und Schmuck bei Häuptlingen und Königen zu den Modekapriolen der kongolesischen „Sapeurs“ gespannt, die sich durch dandyhaftes Auftreten und luxuriöse Designerkleidung unter den Bewohnern der Armenvierteln von Kinshasa hervortun.
Im Kapitel „Power und Politik“ dienen rituelle Holzmasken, die Himmelheber bei den Pende erwarb, dem in Kinshasa lebenden Künstler Hilaire Balu Kuyangiko als Vorbild für seine „Nkisi numérique“ aus Elektroschritt. So erschafft er seine „düstere Zukunftsvision der von Konsum, Kapital und Ausbeutung geprägten Weltwirtschaft“.
„Performance und Initiation“ schließen den Rundgang ab, der sich ganz auf Himmelhebers Fotoserien zu Interaktion von Masken, Bewegung und Musik konzentriert. Traditionelle Initiationsriten werden bis heute bei zahlreichen Völkern des Kongo fortgeführt, auch als Gradmesser für männliche Schönheitsideale und generell für das Konzept der Männlichkeit. Weiblichen Initiationsriten wird dabei eher weniger Aufmerksamkeit gewidmet.

Das letzte Wort soll einem gehören, für den der Kongo Heimat und Zukunft ist: „Like Kongo, I am Fiction and Future“, schreibt David Shongo unter eine Collage zur Biennale in Lubumbashi 2019. Sie zeigt den Künstler mit einer Maske vor dem Gesicht mit dem Gesicht eines von Himmelheber 1938 Porträtierten. Ursula Daus
Fiktion Kongo. Kunstwelten zwischen Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Nanina Guyer und Michaela Oberhofer. 328 S. Zahlreiche Abb. 48 €. Scheidegger & Spiess, Zürich 2019 http://www.scheidegger-spiess.ch
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In gewohnt lässig-konzentrierter Manier beginnt Patrick Deville auch dieses romaneske Lebensporträt über den „Arzt, Forscher, Seefahrer, Landwirt, Geograf und Mitarbeiter Louis Pasteurs“, Alexandre Yersin, dem Entdecker des Pestbazillus in China. Er entwickelte als Erster einen Impfstoff und befreite im wahrsten Sinne des Wortes die gesamte Menschheit von dieser tödlichen Plage.
Der „Roman“ erschien 2012 in Paris, 2013 in einer ersten deutschen Version und wurde 2017 vom Unionsverlag in einer Taschenbuchausgabe neu aufgelegt. Angesichts der aktuellen weltumspannenden Pandemie aufgrund eines ebenfalls noch nicht völlig entschlüsselten Virus und fehlenden Impfstoffs verschafft die Lektüre einen tiefen Einblick in die Irrungen und Wirrungen des wissenschaftlichen Tuns auf der Suche nach medizinischer Rettung. Der Roman liefert darüber hinaus einen faszinierenden Einblick in des abenteuerliche Leben von Alexander Yersin, der aus dem Schweizer Kanton Waadt stammte, in dem es „außer der Folterung von Insekten… seit vielen Generationen kaum etwas zur Zerstreuung“ gab. (S. 12)
Doch sobald er kann, entflieht er zum Studium nach Deutschland, nach Berlin. Weitere Stationen seiner Ausbildung absolviert er in der Normandie, in Paris. Das Schicksal ist dem „Lebenssüchtigen“ hold, läßt ihn als Schiffsarzt zwischen den Kolonialstationen Frankreichs, Großbritanniens, Portugals verkehren, Colombo, Haiphong, Saigon, Kanton, Hongkong, Macau…. Und dabei findet er seine eigentliche Aufgabe: die Entschlüsselung des Pestbazillus und die Entwicklung eines Impfstoffes. In diesem Leben eines genialen Wissenschaftler trifft Vorbereitung auf Gelegenheit. Tamara Pracel
Pest und Cholera, Roman von Patrick Deville. 236 S., 12,95 €. Unionsverlag, Zürich 2017 http://www.unionsverlag.com