Neuerscheinungen von BABYLON Metropolis Studies beim Ehrengast Spanien auf der Frankfurter Buchmesse 2022

Folgende Neuerscheinungen von BABYLON Metropolis Studies URSULA OPITZ VERLAG aus den Jahren 2022, 2021 und 2020 werden beim Ehrengast Spanien vom 19. bis 22. Oktober 2022 präsentiert:

Die Skulptur des „Toro de Osborne“ gibt Orientierung im Leeren Spanien. Foto R & U Daus, 2021

Gibraltar. Im Fadenkreuz der Literatur, 378 S., 55 Abb., 59 € ISBN 978-3-925529-38-2 Oktober 2022

KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin „500 Jahre Weltumsegelung 1519-1522“, 130 S., 31 Abb. 20 € Juni 2021

Die „Casas-Palacio de Cargadores a Indias“ von El Puerto de Santa María im 21. Jahrhundert. Ein literarischer Befund, 220 S., 56 Abb., 39 €. ISBN 978-3-925529-37-5

Kritiken neuer Literatur des Ehrengastes Spanien bei der Frankfurter Buchmesse 2022 in unserem Magazin KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin

Unter dem Motto Creatividad desbordante, Sprühende Kreativität, präsentiert der Ehrengast Spanien die Werke spanischer Autorinnen und Autoren im Original und einen Teil davon in deutscher Übersetzung. Neben den bekannten Stimmen wie Irene Vallejo, Antonio Muñoz Molino oder Arturo Pérez-Reverte werden auch jüngere Autoren mit ihren in Spanien sehr erfolgreichen Texten dem deutschen Publikum näher gebracht. Einer von ihnen ist der 1979 in Madrid geborene Sergio del Molino, der in Saragossa lebt und arbeitet. Sein Buch „La España vacía. Viaje por un país que nunca fue“, Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab, erschien im Original 2016.

Beginnen wir gegen jede Konvention mit dem Untertitel des Essays von Sergio del Molino: „Reise in ein Land, das es nie gab“, denn dieser Satz beinhaltet das Besondere, das Einzigartige seines Werkes über das leere Spanien. Nach Ansicht des Autors hat sich in den Köpfen seiner spanischen Mitbürger ein Bild von einem leeren Spanien eingenistet, das sich aus den Erinnerungen von Millionen Landflüchtigen der 1950er und 1960er Jahre speist, die der Autor mit „Das große Traum“ überschreibt. Es setze sich zusammen aus Fiktionen – Romanen, Erzählungen, Reiseberichten, Gedichten, Filmen – und einer Nostalgie nach einer wie auch immer gearteten Rückkehr in dieses verlorene Paradies (die einige wenige Stadtflüchtige tatsächlich realisierten – offenbar oft zu ihrer eigenen Enttäuschung).

Die aktuellen Statistiken belegen ein extremes Verteilungsgefälle der spanischen Bevölkerung. Denn von den 46,5 Millionen Spaniern leben nur 7,3 Millionen, also 15,75 Prozent, auf einer Fläche von 53 Prozent des Nationalterritoriums. Hierbei handelt es sich vor allem um das als Meseta bezeichnete Innere des Lan- des. Wenn man davon Provinzhauptstädte wie Saragossa, Burgos, Zamara, Valladolid, Salamanca, Mérida herausrechnet, verbleiben nur 4,6 Millionen Einwohner, die sich in Kleinstädten, Dörfen und Weilern über dieses riesige Hochland zwischen Pyrenäen, Atlantik und Mittelmeer verteilen. Im Portugiesischen gibt es ein Sprichwort: „Portugal é Lisboa e o resto é paisagem“, Portugal, das ist Lissabon, und der Rest ist Landschaft. Auf Spanien könnte man es abgeändert anwenden: „España es Madrid y el resto es paisaje“. Molino erfindet einen noch extremeren Vergleich. „Madrid ist, wenn man so will, ein Schwarzes Loch, umgeben von gewaltiger Leere.“ (S. 43).
Doch die Kompaßnadel des Wanderers Molino im großen iberischen Nichts richtet sich nicht nur auf soziopolitische Jahrbücher, historische Untersuchungen zur Landflucht oder politische Heilsversprechungen. Mit schwerem Gepäck aus Literatur, Reportagen und Filmen (Molino ist im Hauptberuf Journalist und gehört zu der für Spanien besonderen Spezies des „schriftstellernden Journalisten“) macht er sich auf den mühsamen Weg und „bereist“ die neuralgischen Plätze, die während der vergangenen 200 Jahre das Bild des leeren Spaniens bei den Spaniern geprägt haben. Und dabei betont er immer wieder, wie stark Außenstehende – Literaten und Künstler aus Madrid, Barcelona oder Valencia, aber auch aus Frankreich, England oder Deutschland – dieses Bild geformt haben. „Es ist nicht dasselbe, ob andere von einem erzählen oder man selbst, genauso wenig wie es dasselbe ist, ob andere über einen herschen oder man selbst.“ (S. 142) Wie ein erfahrener Regisseur von Grusel- oder Monsterfilmen konfrontiert Molino sein Lesepublikum im Hauptteil unter der Überschrift „Die Mythen des leeren Spanien“ mit einer Reihe „barbarischer Morde“, die in den vergangenen 30 Jahren gewinnträchtige Schlagzeilen in der großstädtischen Presse produzierten. In dem von Stadtflüchtigen bewohnten Pyrenäendorf Fago – „nicht Fargo wie in dem Film der Brüder Coen“ – erschießt 2007 ein Zugezogener den ebenfalls zugezogenen Bürgermeister, weil der ihn mit offiziellen Anordnungen drangsalierte. Schon Anfang der 1990er Jahre übten zwei Brüder Blutrache in dem nur einige Hundert Bewohner zählenden Dorf Puerto Hurraco an der Grenze zwischen der Extremadura und Andalusien. Neun Tote und 11 Schwerverletzte, darunter mehrere Kinder, war die Bilanz – ein weiterer Beleg für die nie ausgemerzte „Barbarei“ aus Ignoranz und Gewalttä- tigkeit im leeren Spanien. All dies nur mit der „Langeweile“ des Landlebens zu erklären, greift nach Ansicht Molinos zu kurz. Eher beruhe es auf dem Gefühl, nicht dazuzugehören zum großen Ganzen, dem, was Spanien nach seiner Demokratisierung in den 1980er Jahre propagiert hatte. Das Innere konnte trotz einer wie eine Monstranz von Politikern vor sich hergetragenen Aufbau- und An- schlußmission nicht wirklich erfolgreich „befriedet“ werden.

Der Boden des inneren Spaniens atme die seit dem Mittelalter auf ihm ausgefoch- tenen Schlachten, Kriege, Bestialitäten immer noch aus. Frieden kannte man nicht. Man baute „Schutzräume“, wie es etwa die vor der Inquisition in die später übel beleumundeten „Las Hurdes“ flüchtenden Juden taten. Die Bergregion liegt zwischen den Provinzen Salamanca und Badajoz an der portugiesischen Grenze. Und hier setzt das zweite Vorurteil über das Innere Spaniens an: „Stämme ohne Verbindung zur Außenwelt“. Befeuert wurde diese Ansicht durch einen in Spanien selbst lange verbotenen Dokumentarfilm aus den 1930er Jahren des Regisseurs Luis Buñuel. „Las Hurdes. Tierra sin pan“, Las Hurdes, Land ohne Brot, 1933, zeigte das elende Leben der Bergbewohner als eine Reise in die Hölle auf Erden (bei youtube in voller Länge mit spanischem Originalkommentar). Denn offensichtlich reichten Buñuel die erbärmlichen Lebensverhältnisse in den Dörfern nicht als Beleg seiner Sozialkritik. Einige der Bewohner dienten ihm als willfährige Schauspieler ihres eigenen Untergangs: ein kleines Mädchen, angeblich sterbenskrank, legte sich ermattet auf einem Stein nieder, „wo sie 2 Tage später starb“. Defacto lebte sie jedoch bis in ein hohes Alter. Ein angeblich kurz nach der Geburt verstorbenes Baby wurde auf den Schultern der Männer zum Friedhof im Tal gebracht. Auch dieses Kind hatte noch ein langes Leben vor sich. Nur ein Esel, der vor aller Augen von einem Schwarm Bienen zu Tode gestochen wurde, mußte tatsächlich sein Leben lassen wie auch eine Ziege, die an einem Steilhang zum Absturz gebracht wurde. Die Bilder prägten sich ein und prägen das Image von „Las Hurdes“ bis heute, was dem Lokaltourismus mächtig Auftrieb gibt und Madrider Jungreporter vor Ort nach Überlebenden suchen läßt. Relativ erfolgreich interviewen sie 93-Jährige mit perfekten Erinnerungen in geschliffenem Spanisch vorgetragen.

Mit der Begeisterung für eine romantisch-gefühlige Landschaftsbetrachtung, die Anfang des 19. Jahrhunderts von der deutschen Romantik aus auch nach Spanien überschwappte, suchten einige Literaten und Künstler aus den großen Städten Inspiration „auf Schusters Rappen“, was angesichts der Entfernungen im Inneren Spaniens und der klimatischen Extreme einen gewissen Mut erforderte. Mit nur kleinem Gepäck brachen sie ins Hinterland von Madrid auf, wo sie eine Art Missioniserungsdrang überfiel, und sie dazu provozierte, ihr Schönheitsempfinden und ihr Kunstwissen den ungebildeten, analphabetischen Dörflern nahezubringen. Im 20. Jahrhundert wurde dieses in situ-Lernen auch auf die Studenten der Architektur- und Kunstgeschichte ausgeweitet. Wie die großen spanischen Eroberer Amerikas und des Pazifiks „entdeckten“ sie die Landschaft und Kunstschätze im Inneren ihres eigenen Landes. Zu den bekanntesten Literaten dieser Unternehmungen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert gehörten Zorillas, Unamono, Vale-Inclan und andere mehr. Eine Aufwertung des leeren Spaniens war dies nur in den Augen einer Minderheit. Die Mehrheit behielt ihre Vorurteile – und schaute von Madrid aus Richtung Küste und von der Küste aus Richtung Meer.

Literarische Werke und Essays über das leere Innere wurden dennoch pausenlos produziert. Dem berühmtesten unter ihnen folgend, nämlich Cervantes „Don Quijote de la Mancha“, erstellten die Nachgeborenen teilweise auch seltsame Hirngespinste. Statt den Roman als Fiktion zu genießen, versuchte man ihn wie einen Reiseführer zu lesen, mit ausgewiesenen Streckenbeschreibungen, Ortsangaben und realen Persönlichkeiten, die angeblich den Lebensweg des Ritters kreuzten. Diese Sonderlichkeiten erzeugten zwei positive Ergebnisse. Viele kleine, unbeachtete Orte wurden plötzlich als „besuchenswert“ konnotiert und profitierten von dem daraus entstehenden Tourismus. Und die Spanier, die sich bisher für die „Kargheit ihrer Landschaft“ geschämt hatten, die von vielen ihrer Schriftsteller oft abschätzig als ein „braunes wogendes Meer“ bezeichnet wurde, versöhnten sich mit den Mängeln eines so großen Teils ihres Landes.

Den Mythos der Karlisten aus dem 19. Jahrhundert, die versuchten mit mehreren Revolutionen und Guerillakriegen aus dem traditionellen dörflichen Inneren Spaniens heraus, das Land zu verändern – konservative Kreise in Spanien hängen dieser Idee bis heute an – zerlegt Molino gekonnt. Junge Autoren aus Madrid, Barcelona, Valencia versuchten im neuen Jahrtausend mit ihren eigenen Mitteln, nämlich durch die Erkundung der „vergessenen Wörter und Sprache“, diesem vernachlässigten Landesteil erneut habhaft zu werden. So muß es also wieder die Literatur richten, denn den nationalen Aufbauprojekten (auch mithilfe von EU- Fonds) gelingt zwar die Verbesserung der Infrastruktur im leeren Spanien, aber nicht die Veränderung der Einstellung zu diesem leeren Inneren.

Spanien ist anders, heißt es, Spanien sei gewalttätig, barbarisch in seinem Inneren, aber nicht reformierbar. „So oder so ist die Sprache heute das Einzige, was uns bleibt, wenn wir jene Ursprünge rekon- struieren wollen“, tröstet der Autor sein spanisches Publikum. Für die deutschen Leserinnen und Leser hat er ein Vorwort beigefügt, das den besonderen Erfolg sei- nes Buches in Spanien erklären soll bis hin zur Schaffung einer neuen Partei „La España vaciada“, Das entleerte Spanien. Das leere Spanien wurde geboren aus ei- ner Fiktion und der realen Obsession als Folge dieser Fiktionalisierung. So schafft Imagination Heimat! Ronald & Ursula Daus

Leeres Spanien. Reise in ein Land,
das es nie gabvon Sergio del Molino, übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen. 304 S. 30 €. Wagenbach, Berlin 2022 http://www.wagenbach.de

(Siehe dazu auch: „Im leeren Zentrum Spaniens“, in: KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 41-42/2022)

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Nach der Aufklärung ist vor der Aufklärung. Die Romantik „erfand“ die Landschaft und die Identität durch Traditionalismen und Bodenständigkeit als Gegenbild zu Industrialisierung, rasanter Verstädterung und der rationalen Mo- derne. Spanien blieb davon zwar nicht unberührt, erfuhr jedoch besonders während der Franco-Diktatur ab 1937 eine eigenständige Modernisierung auch der ländlichen Ansiedlungen unter dem Mot- to einer „nationalen Utopie“. Besonders hervorzuheben sind hier die Pueblos de colonización, Kolonistendörfer, im „Leeren Spanien“ entlang der durch eine forcierte Bewässerungspolitik veränderten Flußlandschaften. Gewachsene Dörfer mußten den Staudammgroßprojekten weichen. Neue Pueblos wurden am Reißbrett entwickelt und als Modelle für eine neuartige Agrarproduktion implan- tiert. Ideologisch verorteten die mit der Neustrukturierung des ländlichen Sektors Beauftragten ihr Wirken als Fortsetzung der ihrer Ansicht nach gelungenen Kolo- nisierung und Implantierung spanischer Stadtkultur in der Neuen Welt. Interes- santerweise erhielten die Kolonisten- dörfer in den abgelegensten Gegenden der Extremadura Namen wie „Pizarro“ oder „Hernán Cortés“ in Erinnerung an das Große Zeitalter der Conquistadores. Man fühlte sich endlich wieder zu großen Taten herausgefordert und Viele machten mit: Architekten, Ingenieure, Stadtplaner, Künstler.

Auch die Surrealisten setzten sich mit dem ländlichen Raum auseinander. Alejandro de la Sota erfand das surrealistische Pueblo. Eine Mischung aus traditioneller andalusischer Dorfarchitektur und artifiziellen Landmarken wie einem Parkpavillion in Gaudí‘scher Manier mit Phantasiekuppel und Blechstandarte, 1953, ist der Ort Esquivel. Und nicht nur Maler wie Salvador Dalí, auch sein Zeitgenosse Alberto Sánchez Pérez ließ seiner Phantasie freien Lauf bei der Erfindung eines Dorfes wie „El Quijote: pueblo de la Mancha“, 1955.

Surrealistisches Dorfplatzidyll in Esquivel: Parkpavillion und Rathaus als ironisches Zitat zu Gaudís Park Güell in Barcelona. Entwurf: Alejandro de la Sota, 1953.

Der Verfasser, Jean-Francois Lejeune, hat mit „Rural Utopia and Water Urbanism“ ein profundes Lese- und Anschauungsbuch vorgelegt, daß nicht nur die historischen Hintergründe und den spanischen Sonderweg der Moderne-Bewegung des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Er weist mit der Materialfülle an Projekten und den damit befassten Architekten auch auf den Zusammenhang hin, der Spanien nach dem Ende der Franco-Diktatur zu einem Hotspot überbordener Architektur- und Design-Kreativität werden ließ, die bis heute anhält. Diese Kontinuität innerhalb der spanischen Architektur gründet seiner Ansicht nach teilweise auf den außerhalb Spaniens wenig beachteten oder nahezu unbekannten Pueblos de colonizaciónes, entworfen und gebaut in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ursula Daus

Rural Utopia and Water Urbanism. The Modern Village in Franco‘s Spain, von Jean-François Lejeune. 408 S., 400 Abb. 28 €. DOM publ., Berlin 2021 https://dom-publishers.com

(Siehe dazu auch „Städtebau als Kreuz-zug Francos. Wiederaufbau und Erneuerung unter der Diktatur in Spanien 1938-1959“DOM publ., 2021, in: KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 41-42/2022)

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Er beginnt mit einer Belagerung und endet mit einer Belagerung – der Essay über „Europas letzte Festungen. Reise nach Ceuta und Melilla“ von Hans-Christian Riechers. 1415 wurde die auf der von Europa aus gesehenen „anderen Seite“ der Straße von Gibraltar gelegene arabisch-berberische Hafenstadt Sebta, heute Ceuta, von den Portugiesen nach kurzer Belagerung eingenommen. Sie stellte den Beginn des großen europäischen Abenteuers der „Entdeckungen“ und Inbesitznahme der restlichen Welt dar. Von hier aus suchten die Portugiesen entlang der Küsten des afrikanischen Kontinents den Weg zu den Reichtümern Asiens, vor allem seine Gewürze. Ceuta blieb nicht lange in portugiesischem Besitz, denn die von den Spaniern erfolgreich betriebene Reconquista, Rückeroberung, der iberischen Halbinsel von ihren

Die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla an der Straße von Gibraltar. Zeichnung von Diego Lara und Ricardo Sánchez.
Aus: F. García de Cortázar, „Viaje al corazón de España“, 2018

islamischen Herrschern, machte auch vor den Hafenfestungen am Nordufer des afrikanischen Kontinents nicht halt und konnte bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem regelrechten spanischen Kolonialreich bis hin nach Mauretanien ausgeweitet werden. In den 1930er Jahren wurde Melilla für die Legionäre unter dem Kommando des späteren Diktators Francisco Franco ein wichtiger Brückenkopf beim Angriff auf das republikanische Spanien. Ceuta und Melilla sind somit die letzten Kronzeugen des spanischen Afrika-Kolonialismus.

Der Autor läßt die historischen Ereignisse der vergangenen 600 Jahre in kurzen Kapiteln an seinem Lesepublikum vorbeiziehen, mit Abstechern in die Antike und in die Literatur, auch die der Gelehrten und Dichter von Al-Andalus. Deren legendärer Nimbus als hervorragende Wissenschaftler und einfühlsame Beobachter strahlt bis heute weiter.

Die geostrategische Lage auf dem afrikanischen Kontinent in nur kurzer Entfernung zu Europa macht die beiden Städte im 21. Jahrhundert zu einem „Einfallstor“ für Flüchtlinge oder Zuwanderer, die der Autor „Migrierende“ nennt. Die Orte sind weder von ihrer Ausstattung noch von ihrer Geschichte her diesem Ansturm aus Schwarzafrika, dem Mittleren Osten, Asien oder auch nur aus dem Nachbarland Marokko gewachsen. Spanische und europäische Grenzschutzanlagen, Abkommen mit dem Königreich Marokko und abschreckende Verfahren sollen die Zehntausenden von Asylsuchenden fernhalten, was nur bedingt gelingt. Dabei haben sie es nicht – wie einst die Portugiesen und ihre europäischen Nacheiferer – auf die sich hinter den Festungsmauern vermuteten Reichtümer der Bewohner abgesehen, sondern auf den Eintritt in die „Wohlstandsunion“ (S. 132), die für sie der europäische Kontinent darstellt. Die letzten Seiten widmet der Autor seinem offensichtlich politischen Engagement: „Aus Sicht all jener, die eine kontrollierte Migration wollen, böten Ceuta und Melilla als Standorte für geregelte Einreise- und Asylverfahren eine Chance für Europa, seinen Ansprüchen gerecht zu werden.“ Für einen Besucher aus dem weitentfernten Deutschland scheint dies ein logischer Schritt zu sein. Die Bewoh- ner der beiden Städte kommen nur sehr fragmentiert und sporadisch in diesem europäisch-afrikanischen Vielklang aus Geschichte und Geschichten zu Wort. Auch fehlt in dieser kurzen Erkundung jeglicher Hinweis auf die literarischen Stimmen aus den „letzten Festungen Europas“, wie etwa diejenigen, die Guillermo Portillo in „La Luz y el mar de Ceuta“ versammelte. Hier finden sichGedichte über Ceuta, die zu den „Klassikern“ seiner Literatur gehören und vom „Instituto de Estudios Ceutiés“ 2006 publiziert wurden. red

Europas letzte Festungen. Reise nach Ceuta und Melilla, von Hans-Christian Riechers. 176 S., 13 €. Wagenbach, Berlin 2022 http://www.wagenbach.de

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Das Verdienst dieser vergleichenden Studie über die Oligarchien in vier unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas – Argentinien, Chile, Mexiko und Brasilien – liegt in ihrer Einzigartigkeit in der deutschsprachigen Lateinamerikanistik. Dabei konzentriert sich ihr Verfasser, der Soziologe Peter Waldmann, vor allem auf die „weichen“ Faktoren, die zum anhaltenden Erfolg von Oligarchenfamilien in Lateinamerika beitrugen. Interessant dabei ist festzustellen, daß die gewählten Erfolgsmuster in den einzelnen Ländern nur selten zu grenzüberschreitenden Verbindungen führten, um dadurch Synergien zu erzeugen. Man blieb dort, wo der Erfolg begann. Das Beispiel eines Zuwanderers aus Panama, dem es in Mexiko-Stadt gelang, sich in eine der Elite-Familien zu integrieren, blieb eine Ausnahme. Die Etablierung dieser Familiennetzwerke fällt in den spanischsprachigen Ländern der Studie in die Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts, in der die Unabhängigkeit ihre wirtschaftlichen und politischen Früchte für diesen Personenkreis zu tragen begann. Im Fall Brasilien stellte sich die Situation leicht verändert dar, da diese politischen Rahmenbedingungen erst ab den 1880er Jahren gegeben waren. Koloniale Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnisse wurden hier weit über ihren Zenit hinaus perpetuiert. Geschäfte und Handel blieben lange Zeit auf Portugal beschränkt, über das der Zugang zu Europa gesichert wurde. Damit fehlten auch die für eine aus Unternehmern und Industriellen zusammengesetzte dynamische Elite notwendigen Modernisierungsimpulse.
Die Stärke der Oligarchien in den einzelnen Ländern lag in ihrem familiären Zusammenhalt und der „bedinungslosen Unterwerfung“ unter die Gebote des Patriarchen. Nur in wenigen Ausnahmen konnte auch eine Matriarchin diese Rolle einnehmen. Wesentliche Faktoren zum Erfolg waren „Erziehung“ einer meist zahlreichen Nachkommenschaft, „Heirat“, welche wiederum im Kreis der „Verwandtschaft“ zu einer verbesserten Stellung innerhalb der Oligarchie führen konnte, und der Umgang mit dem „Erbe“.

Ausführlich wird die Epoche der „Belle Époque“ behandelt, sozusagen der Hochzeit der lateinamerikanischen Oligarchen. In dieser Zeit beeinflußten sie nicht nur das Wirtschaftsleben ihrer Länder, sondern auch das soziale Leben, das sich ganz an den Normen des immer noch europäischen Vorbilds, hier vorallem Paris, ausrichtete. Europa galt als einziger Maßstab der feinen Lebensart. Oligarchen bauten sich Paläste im Stil der Zeit, spendeten für Kulturbauten wie Opernhäuser und Museen, spielten sich als Mäzene auf und zogen von Zeit zu Zeit selbst in den politischen Zirkeln ihre Strippen. In Argentinien konnte etwa nach der langen Zeit der „Herrschaft der Generäle“ der Oligarch Marcelo Torcuato de Alvear 1922 Präsident werden.Auch für Brasilien gibt es in dem Oligarchen des nordöstlichen Staates Paraíba, Epitacio L. Pessoa, eine Persönlichkeit aus diesem Gesellschaftsspektrum, der es 1918 bis zum Präsidenten des Nationalstaates schaffte, obwohl die informell agierende brasilianische Landoligarchie dem „fremden“ Staat gegenüber große Vorbehalte zeigte. Immerhin beherrschen diese Oligarchenfamilien den ehemaligen Zucker- und Sklavenstaat Paraíba bis heute mit eiserner Faust und bewaffneten Privatarmeen.

Cover der spanischen Ausgabe (2022) von „Oligarchie in Lateinamerika“ unter Verwendung einer Zeichnung des Autors.

Jedes Kapitel dieser Studie findet seinen Abschluß in „Zeitbilder und Zeitporträts“, Originaltexte mit der Einschätzung von Zeitzeugen oder landestypischen Nachbetrachtungen.
Die „Zählebigkeit familialer Netzwerke“ sieht der Autor als eine „bleibende Hinterlassenschaft“ trotz einschränkender „Herrschaftseinbuße“. Ronald & Ursula Daus

Oligarchie in Lateinamerika. Dominante Familiennetzwerke im 19. und frühen 20. Jahrhundert, von Peter Waldmann. 228 S., 39,95 €. Campus, Frankfurt/Main 2021 http://www.campus.de

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