KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 43-44 „Sensei – Lob des Meisters“

Hommage zum 80. Geburtstag unseres Herausgebers Ronald Daus

In einer Welt des globalisierten Teamgeistes wollen wir noch einmal das Lob des Meisters und der Meisterin singen. Den Ton gibt der japanische sensei – Ältere, Lehrer, Meister – vor. Von einem Meister akzeptiert zu werden, war die höchste Auszeichnung für einen Schüler oder eine Schülerin, und er oder sie blieben ihm treu bis an sein Ende und darüber hinaus. Sie ehrten sein Andenken, indem sie sein Werk weiterführten.

Dem berühmtesten Meister des asiatischen Kontinents, Buddha, widmen wir ein besonderes Augenmerk für seinen Auftritt in den einsamen Ebenen der Meseta, dem spanischen Hochland, wo die höchste Buddha-Statue außerhalb Asiens ent- steht.

Die japanischen Meisterdichterinnen der Heian-Zeit (794–1184) üben ihren Einfluß auf die Weltliteratur bis heute aus, der sich darüberhinaus in den tra- ditionellen Noh-Spielen wie in den japanischen Holzschnitten des 18. und 19. Jahrhunderts als auch in Animationsfilmen des 20. und 21. Jahrhunderts wider- spiegelt.

Die berühmten „Meisterinnen der Verführung“, die auch auf dem politischen Spielfeld aktiv waren, sowie die „Kleinen Meister“ des Snobismus bereicherten über Jahrhunderte das höfische, literarische und revolutionäre Leben Europas – immer auf die Gefahr hin, Opfer ihrer ehemaligen Bewunderer und Neider aus dem einfachen Volk zu werden, dem sie oftmals entstammten. Aber auch Hand- werks-Meisterinnen und gebildete Bürgerinnen bewiesen ihre Sonderstellung durch ihr Können und ihre Durchsetzungsfähigkeit in Zeiten, in denen ihnen die Gesellschaft und die offizielle Geschichtsschreibung die gebührende Anerken- nung oftmals verweigerte.

„Japanische Meisterdichterinnen“: Die Dichterin und Kaiserin Saigu Nyogo Yoshiko (928-985). Tusche und Faben auf Papier. Kasen-e von Fujiwara no Nobuzane (1176-1268). Aus: Kosmopolis – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 43-44/2023; S. 20/21.

Aus dem Inhalt:

Ronald & Ursula Daus * Sensei – eine kurze Einführung
Ursula Daus * Japanische Dichterinnen der Heian-Zeit (794-1184)
Kan‘ami Kiyotsugu * Prinz Genji in Suma
Udaka Michishige * Blick hinter die Maske eines Noh-Meisters
Beat Presser * Das Lob des Meisters
Claudia Opitz-Belakhal * Es lebe die Meisterin – Tod der Mätresse!? Über zwei ambivalente, aber mächtige Frauenfiguren in der europäischen Kulturgeschichte
Antonius Moonen * Die Kleinen Meister
In Berlin und anderswo: Ehrengast Spanien bei der Frankfurter Buchmesse 2022 * Verlorene Paradiese in Kabul und Saudi-Arabien * Transformation in Shanghai * Neue Japanische Architektur * „Stein um Stein“ in Berlin und anderswo
Neue Bücher: Annäherungen in Lateinamerika und Mandalay * Spurensuche in Neapel und Japan * Barock in der Schweiz
Kolophon: Ursula Daus * Der weisse Buddah von Cáceres

KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 43-44/2023 „Sensei – Lob des Meisters“, 110 S., 35 s/w Abb., 1 Farbabb., 20 €

Ein Vorgeschmack auf KOSMOPOLIS – Interkulturelle Zeitschrift aus Berlin 45/2024 „Saudade“ – Sehnsüchte

Saudade oder die Sehnsucht der Anderen

von Beat Presser

„Nur wer von dort sei, begreife Saudade. Mit dort ist Portugal gemeint und über- setzen könne man den Ausdruck ohnehin nicht sinngemäss“, so das Narrativ. Dennoch, ein Nichtportugiese hat mir Fado, Saudade und vieles, was damit zusam- menhängt, näher erläutert.

Wir sassen in der Kunsthalle in Basel, meiner Heimatstadt, beim Essen, mir gegenüber mein spanischer Fotografenfreund und Filmemacher Carlos Saura, dem das Stadtkino Basel eine grosse Retrospektive gewidmet hatte und palaverten über die Vorteile der analogen Fotografie und bemitleideten die neue Generation serer Berufsgilde, die mit ihren digitalen Spielzeugen glänzen und sind beide der Meinung, dass aufgrund dieser revolutionären Neuerungen viel Wissen um die Fotografie unwiderbringlich vergessen gehen wird. Der Gesprächsstoff, unter Fotografen – wie man sich gut vorstellen kann – ist unendlich. Die Fotografie, eine Wissenschaft, die sich seit Anbeginn vor beinahe 200 Jahren ständig weiterentwi- ckelt hat und nicht selten auch mit Magie und Zauberei in Verbindung gebracht wird, ist ein ewiges Faszinosum für all jene, die mit der Fotografie in Berührung kommen. Während die neue Generation der Berufsfotografen sich in erster Linie über Instagram, Facebook und Links unterhält, diskutieren wir – die älteren Semester – lieber über die Vorzüge von ID-11 im Vergleich zu anderen Negativ- entwicklern, oder dem Unterschied von Fotopapieren mit Festgradationen gegen- über den neueren Multigrade-Produkten. Über die rasche Entwicklung von der analogen zur digitalen Technik, und mit einem Mal kommt bei uns beiden eine Art Sehnsucht mit ins Spiel, „Saudade“ meint Carlos lachend. In dem Moment hält Carlos inne und fragt, ob ich seinen Film „Fados“ aus dem Jahre 2007 kenne. Ganz begeistert nimmt er seine Erzählung auf und berichtet mir von Portugal, der wunderbaren Musik, von Saudade, der Melancholie, Trauer, Liebe, Sehnsucht, dem Heimweh, Pathos und der verwundbaren portugiesischen Seele. Einige Stunden und ein paar Gläser Rotwein später verabschieden wir uns, nicht ohne dass mir Carlos den Rat gibt, nach Porto und Lissabon zu fahren. Ich solle mich be- eilen, meint er traurig, in absehbarer Zeit würden sich international tätige Speku- lanten und Immobilienhaie auf Lissabon und Portugal stürzen!

Anderntags stehe ich wieder in meinem Labor, entwickle den Film vom Vorabend und die letzten 15 Filme meiner Seereise im Indischen Ozean vor Zanzibar und fertige bei Rotlicht die dazugehörigen Kontaktkopien an. Das Fotolabor, ein Ort der Ruhe, Konzentration und Dunkelheit, geeignet, seinen Gedanken nachzugehen. Sie kommen und gehen, nicht immer ge-ordnet, als ob sie ihren eigenen Rhythmus hätten.

Portugal, neben Spanien die vorheschende See- und Kolonialmacht im 16. Jahrhundert. Nicht über jeden Zweifel er- haben, eine Zeit, in der die seefahrenden Nationen viel Leid und Verderben über die Welt gebracht haben. Ganze Kulturen wurden für immer vernichtet, Landstriche verwüstet, Volksgruppen ausgerottet, Krankheiten verbreitet, Andersdenkenden oft mit Gewalt das Christentum aufoktroyiert. Gesindel, rohe Gesellen, Analphabeten, Kriminelle und Gewalttätige waren auch mit dabei, als man sich entschied, ins Unbekannte vorzustossen, mit der Absicht, die Welt weit ab von der eigenen Heimat zu erobern und zu unterwerfen. Vieles davon ist heute bekannt und wird anders und kritischer beurteilt, als es damals der Fall war. Vieles wurde auch vertuscht und wird für immer im Dunkeln bleiben. Dieses jenes geht mir an jenem Morgen während der Filmentwicklung und völligen Abgeschiedenheit in meinem Labor durch den Kopf. Mit einem Mal fällt mir Carlos Saura wieder ein und seine Erklärungen in Sachen Saudade und ich frage mich: Wenn Saudade eine rein portugiesische Angelegenheit ist, leidet die portugiesische Gesellschaft noch immer unter einer Art Trauma in Verbindung mit einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit? Ist Saudade im weitesten Sinne eine Vergangenheitsbewältigung und genetisch im kollektiven Gedächtnis verankert? Ein Gedankenspiel nur, im lichtdichten Raum, umgeben von Vergrösserungsgeräten, Fotopapieren, Fotochemie, Negativhüllen und viel Zeit, um den Gedanken freien Lauf zu lassen. Jedoch, diese kollektive Schuld trifft ja nicht nur auf Portugal zu. Die meisten europäischen Staaten waren inirgendwelcher Form an derKolonialisierung, der Verbreitung des Glaubens und dem Profit, der damit Hand in Hand ging, beteiligt. Auch die Schweiz ist da nicht ausgeschlossen. Und viele der Untaten von damals wirken sich da und dort noch bis heute aus. An diesem Tag entscheide ich mich, eine Reise nach Portugal zu unternehmen, um einen Augenschein zu nehmen. Wir fliegen zu zweit nach Porto, Vera hat sich bestens vorbereitet und weiss, wohin die Reise gehen soll – ganz im Gegensatz zu mir, der versucht den Begriff Saudade zu erfassen. Eine Reise ins Unbekannte, die Tag für Tag spannender wird: Porto, bekannt für die von Gustave Eiffel konstruierte imposante Fachwerk-Bogenbrücke über den Fluss Douro, aus dem Jahre 1877, benannt nach der damaligen portugiesischen Königin Maria Pia, und für das Konzerthaus, die „Casa da Música“, ein futuristisches Bauwerk aus Beton, Glas und Aluminium von Rem Koolhaas und Ellen van Loon aus dem Jahre 2005. Als ob ein grosses Kristall mitten in den Verkehr von Porto gefallen sei.

Carlos Saura. Foto Beat Presser 2012

Am zweiten Abend ein erstes Fadokonzert, in das wir zufälligerweise hineingeraten. Ein kleines Lokal, keine 10 Tische, jeder Platz und jeder Stuhl belegt. Neben zwei bereits besetzten Barhockern finden wir noch Platz, erhaschen ab und zu einen Blick auf das Geschehnis und hören uns in eine andere Welt hinein. In der Pause gibt uns das Ehepaar, Senhora e Senhor Amália e Luis Ferreira, von den Hockern herunter erzählend, einen kurzen Einblick in die Geschichte des Fado und die beiden fragen uns, wie wir überhaupt hierher gefunden hätten. „Der Klang einer Sirene“ meine ich und wir fragen, wer da so schön gekleidet auf der Bühne stünde. Die Sängerin sei aus Porto, stadtbekannt, der Gitarrist der Nachbar der Familie Ferreira und der Mann an der Mandoline der Bruder von der hochgeschätzten Senhora. Über die Herkunft des Fados wisse man nur sehr wenig. Nicht einmal woher der Name Fado käme, vielleicht vom lateinischen Wort Fatum, also Schicksal oder Verhängnis. Auch sei Fado immer wieder weiterentwickelt worden, wahrscheinlich auch mit Einflüssen aus Brasilien, den Kapverdischen Inseln, vielleicht auch aus der afrikanischen Musik. Man wisse es einfach nicht, meint Luis und versucht zu schätzen, wie alt Fado sei: „Vielleicht 100 Jahre?“ und wird umgehend untebrochen von seiner Frau Amália: „Mindestens 500 Jahre, mindestens, wenn nicht mehr! Zudem habe Fado vor allem auch viel mit Weltschmerz zu tun. Stellt Euch vor, die armen Seefahrer, die sich für das Vaterland aufgeopfert haben, gestrandet irgendwo in fremden Welten, weit weg von der Heimat an fremden Gestaden, dort muss Fado und Saudade entstanden sein!“ Niemand widerspricht. Wir wissen es nicht, zudem erklingen gerade wieder die nächsten Takte. Im zweiten Teil glaubt man in einem anderen Konzert zu sein. Ein weiterer Gitarrist hat sich dazugesellt. Ein neues Lied, noch ist es nicht ausgeklungen, auf einmal steht eine Frau aus dem Publikum auf und beginnt zu singen, es scheint eine Anwort zu sein, auf das, was vorne auf der behelfsmässigen Bühne gerade vorgetragen wird. Eine Art Frage- und Antwortspiel, ein Streitgespräch, eine erweiterte Erzählung?! Und so geht es weiter, immer wieder erhebt sich jemand anderes und bringt eine Ballade zum besten. Wir verstehen nicht, was da gesungen wird in dem kleinen lebendigen und überbordenden Restaurant, das innert kürzester Zeit zum Konzertsaal mutiert, wir sind des Portugiesischen nicht mächtig. Eine gute Stunde dauert unser erster Fadoabend nach der Pause noch. Mit einem Mal ist es vorbei, alles strömt nach Hause – es ist bereits einiges nach Mitternacht. Auch Frau und Herr Ferreira verabschieden sich und Amália meint noch: „Schon morgen in der Früh werden Sie beide Sehnsucht haben nach dem heutigen Abend, nach unserer schönen Musik. Saudade nennen wir Portugiesen das, dem Vergangenen nachtrauern!“

„Wie vom Himmel gefallen“. Casa da Musica in Porto. Foto Beat Presser 2013

Die Reise geht weiter, zuerst noch zur Porto vorgelagerten „Piscinas de Marés“ des Architekten Alvaro Siza Vieira, einem imposanten Gezeiten-Schwimmbad am Meer. Aber es stürmt und ist kalt, ein Wet- ter das niemanden zum Bade lockt, rauhes Atlantikwetter, das die Seefahrer seit jeher gestählt und herausgefordert haben muss, eine wichtige Voraussetzung, um die Welt zu erobern. Ein paar Tage später besuchen wir das Schifffahrtsmuseum von Ilhavo, „ein Museum, das ein Aufbruch auf See sei“ steht im Werbeprospekt zu lesen und Tage danach die Joaninische Bibliothek, gemäß Werbung: „Die Unibibliothek in Coimbra, eine der beeindruckendsten und originellsten barocken Bibliotheken Eu- ropas.“. Schliesslich Lissabon, das Ende unserer Zugreise von Nord nach Süd, begleitet von viel Kultur und unzähligen sympathischen und spannenden Begegnungen mit Leuten von hier. Überall sind wir herzlich willkommen.

An einem der letzten Tage unseres Aufenthaltes begebe ich mich ins „Museu do Fado“. Hier ist das Gedächtnis des Fado hinterlegt, die Welt des Fado ist hier zu- hause und in einer Endlosschlaufe läuft eine 9-minütige Ausspielung aus Carlos Sauras Film „Fados“. In diesem Film sind alle Fadosängerinnen, Fadosänger und Musiker vereint, die zur Zeit des Filmes und seitdem zu den ganz Grossen des Fado gehören und auf der ganzen Welt Konzerte geben. Ich bin begeistert ob all den Informationen und der Musik, denen der interessierte Besucher ausgesetzt ist. Wobei, das sei vermerkt, Sauras 9-minütige Ausspielung aus seinem Langspielfilm unterscheidet sich in keiner Weise von dem, was wir gleich zu Beginn unserer Reise an jenem Fadoabend in Porto in dem klei-nen Restaurant erleben durften. Nur die Interpreten sind andere, in Porto war alles lebendig, hier im „Museu do Fado“ auf Zelluloid und für die Ewigkeit gebannt. Vom vielen Sehen und Hören lasse ich mich müde in einen der bequemen Stühle nieder und falle kurz darauf in einen tiefen Schlaf und lande in einem schrecklichen Traum: Ich schlendere durch Lissabon, aber nicht durch das von heute, sondern jenes aus einer anderen Zeit. Die Leute sind nicht wie im Heute, sie sind anders gekleidet, sehen anders aus, sprechen anders, alles scheint aus der Zeit gefallen. Ich setze mich in eine Schenke, bestelle Wein, betrinke mich und rufe laut, dass ich Arbeit als Schmid suche, der ich anscheinend bin. Zwei Typen kommen dazu, trinken mit mir. Viel, verwickeln mich in ein Gespräch, bestellen noch mehr und noch mehr Wein. Alles andere und weitere ist mir schleierhaft, erst als ich anderntags in Ketten gelegt in einem Unterschiff wieder aufwache und zu Sinnen komme, wird mir klar: Man hat mich gepresst! Drei Tage später werde ich mit zwei weiteren Unglücklichen aus dem Verlies, vom Licht geblendet, nach oben an Deck zum Kapitän gebracht. Er hadert nicht lange und meint in diktatorischer Manier: „Wer stiehlt oder meinen Befehlen nicht gehorcht wird ausgepeitscht, wer desertiert wird an der Rah aufgeknöpft. Der Schmid soll ein paar neue Anker formen und ihr zwei Taugenichtse, ab mit Euch an die Pumpen!“ Bald haben wir Afrika umrundet und landen irgendwo auf irgendeiner tropischen Insel. Unser Schiff, Grande Rei, sucht und findet eine Bucht und ist bald von vielen Kanus umringt, die Eingeborenen kommen an Bord und empfangen uns freundlich und laden uns ein, sie in ihrer, uns fremden Welt zu besuchen. Kaptain Susto schickt eine kleine Delegation voraus, allen voran der dicke Priester in brauner Kutte, das Kreuz in der einen, die Bibel und eine Schachtel mit kleinen Spiegeln und Nägeln in der anderen Hand und den christlichen Glauben, den er verkünden will. Aber alles geht schief, Priester Gabriel glaubt Schrumpfköpfe zu sehen, lässt die Gewehre in Anschlag bringen, schiesst selber wild um sich und setzt die Siedlungen der Eingeborenen in Brand. Es wird gebrandschatzt und geplündert. Die beiden schlecht ernährten und inzwischen skorbutgeplagten Taugenichtse haben sich davon gestohlen und sind desertiert, der Häupling der Insel wird gefangen, als Geisel genommen und aufs Schiff gezerrt. Ein riesiges Durcheinander und Gemetzel nimmt seinen schrecklichen Lauf …

In dem Moment schrecke ich schweissgebadet auf aus meinem Albtraum, eine Dame hält mich an der Schulter und meint zu mir: „Es ist 18 Uhr, Senhor, das Museum schliesst jeden Moment, kommen Sie doch bitte morgen wieder!“ Ich bin ganz durcheinander, aber froh noch einmal davon gekommen zu sein. Es ist heiss, im Museum ist die Klimaanlage bereits abgestellt, während ich mich ganz verstört zum Ausgang bewege und versuche meinen hässlichen Traum zu verscheuchen. Ich gehe in die nächste Bar, trinke einen doppelten Ginjinha auf eine bessere Vergangenheit und frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn die auf alle Erdteile verteilten Eingeborenen Saudade gekannt hätten? Hätten sie auch wie die Portugiesen darunter gelitten, unter Trauer, Sehnsucht und Heimweh? In Anbetracht all dessen, was sie verloren und unter was sie so lange zu leiden hatten? Oder hat man nur den Portugiesen eine verwundbare Seele zugeschrieben?    Oktober 2023

Über Helden in einer postheroischen Zeit:

Eine originelle Herangehensweise der großen Erzählung über das afrikanische Erbe auf beiden Seiten des Atlantiks soll dieser Versuch der Ausstellungsmacher im Smithsonian National Museum of African Art, Washington D.C. darstellen, um ein größeres, vor allem junges Publikum anzusprechen.

Toussaint Louverture und seine Mitkämpfer sprengen die Ketten der Sklaverei in Haiti.
Cover des Ausstellungskatalogs Heroes. Principles of African Greatness. Illustration von Butcher Billy/illustrionx.com 2023

Es beginnt mit dem Design, das sich an erfolgreichen Graphic-Novels über afrikanische Superhelden und Superheldinnen orientiert und direkt vom Museumsrundgang in die Sozialen Medien ausgreift. Die Idee, einen großformatigen, schwergewichtigen Katalog mit diesem Material zu füllen, kann im Moment nur als Experiment angesehen werden. Neben Kunstwerken, Biographien, Textauszügen bekannter afrikanischer Schriftsteller ergänzt eine „Heroes playlist“ in youtube, spotify oder africa.si.edu den Rundweg durch mehr als 1000 Jahre afrikanischer Kunst und Kultur.

Helden gehören zum Mythos jeder Kultur und spielen eine wichtige Rolle bei der Identifikation ihrer Mitglieder. „Ein Held ist ein Mensch, der nicht nur für sich selbst lebt, sondern sein eigenes Leben für Andere opfert… sich einer Sache geweiht hat, die größer ist als eer selbst,… dessen moralische Zielsetzung darin besteht, einen Menschen oder gar ein ganzes Volke u retten…“, so der bekannte US-amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell. Folgerichtig prangt auf dem Cover des Katalogs eine Graphic-Novel-Version eines der berühmtesten Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei, Toussaint Louverture aus Haiti, der das Motto der französischen Revolution Liberté, Égalité, Fraternité wie selbstverständlich auch für sich und seine versklavten Leidensgenossen angenommen und durch blutige Aufstände in die Tat umgesetzt hat. Dass Haiti heute eines der ärmsten Länder der Welt mit einer immer noch blutigen Alltagsgeschichte darstellt, ist eine traurige Quintessenz dieses mutigen Anfangs.

Die Liste der Freiheitshelden auf beiden Seiten des Atlantiks ist in dieser Ausstellung überschaubar und wird in einzelnen Kapiteln gewürdigt – von Frauenrechtlerinnen in Ägypten über Moscheeprediger im Senegal zu antirassistischen Revolutionären in den USA. Natürlich darf auch die bis heute unangefochtene Inkarnation eines afrikanischen Helden nicht fehlen: Nelson Mandela aus Südafrika.

Die Auswahl der Helden im postheroischen Zeitalter verläuft entlang der in diesem jungen Museum für afrikanische Kunst verfügbaren Artefakte. Der Wille, aus ihnen einen neuen Mythos afrikanischen Heldentums für das 21. Jahrhundert zu kreieren wirkt ein wenig gewollt. Mythen und Legenden von Jahrtausende alten Kulturen des gesamten afrikanischen Kontinents plus die Jahrhunderte langen, grausamen Erfahrungen seiner verschleppten Bewohner in der „Neuen Welt“ auf einige wenige Aspekte und Persönlichkeiten zu reduzieren, soll offenbar der Festigung einer afro-amerikanischen Identität dienen.

Ursula Daus

Heroes. Principles of African Greatness, hrsg. von Kevin D. Dumouchelle. 264 S., 200 Farbabb. Ausstellungskatalog, Hirmer München 2023